Wie sich die Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone über die Zeit verändert hat

Der Bun­des­rat hat ges­tern bekannt gege­ben, wie­vie­le Natio­nal­rats­sit­ze die Kan­to­ne bei den Wah­len 2019 beset­zen kön­nen. Die Kan­to­ne Bern und Luzern ver­lie­ren gegen­über den Wah­len 2015 je einen Sitz, wäh­rend der Kan­ton Genf und die Waadt einen zusätz­li­chen erhal­ten. Die Roman­die ist somit für die kom­men­de Legis­la­tur im Natio­nal­rat so stark ver­tre­ten wie noch nie. Wie der Natio­nal­rat seit der Grün­dung des Bun­des­staa­tes gewach­sen ist und wie sich die Sitz­ver­tei­lung im Lau­fe der Zeit ver­än­dert hat, wird im Fol­gen­den im Detail aufgezeigt.

Noch in der ers­ten Legis­la­tur­hälf­te hat der Bun­des­rat die Ver­tei­lung der 200 Sit­ze auf die Kan­to­ne für die Natio­nal­rats­wah­len 2019 fest­ge­legt. Auf­grund des unter­schied­li­chen Bevöl­ke­rungs­wachs­tums – sowie aus “berech­nungs­tech­ni­schen Grün­den”, auf die wei­ter unten ein­ge­gan­gen wird – ver­lie­ren Bern und Luzern einen Sitz im Natio­nal­rat, wäh­rend die Waadt und Genf einen mehr beset­zen kön­nen. Mit die­sem Zuwachs steigt das Gewicht der Roman­die im Natio­nal­rat. So stark war sie noch nie im Natio­nal­rat vertreten.

Dage­gen schrumpft die Ber­ner Dele­ga­ti­on im Natio­nal­rat wei­ter. Der Kan­ton Bern war bis in die 1960er Jah­re im Natio­nal­rat am stärks­ten ver­tre­ten, nach der jüngs­ten Sitz­ver­tei­lung hat er seit­her neun Sit­ze im Natio­nal­rat ein­ge­büsst. Die­se mas­si­ven Ver­lus­te sind vor allem auf das eher gemäch­li­che Bevöl­ke­rungs­wachs­tum zurück­zu­füh­ren, aber auch auf die ver­schie­de­nen ter­ri­to­ria­len Gebiets­ab­tre­tun­gen, nament­lich bei der Grün­dung des Kan­tons Jura und beim Kan­tons­wech­sel des Lauf­en­tals zu Basel-Land­schaft. Bei den ande­ren Kan­to­nen bewe­gen sich die Ver­lus­te zwi­schen drei (BS) und einem Sitz.

Abbildung 1: Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone 2019

Für jede Wahl eine Neu­ver­tei­lung der Sit­ze auf die Kantone
Gute 150 Jah­re lang waren die Natio­nal­rats­sit­ze auf der Basis der Ergeb­nis­se der tra­di­tio­nel­len eid­ge­nös­si­schen Volks­zäh­lung ver­teilt wor­den, wel­che alle zehn Jah­re durch­ge­führt wur­de. Mit der Ein­füh­rung der «neu­en Volks­zäh­lung» von 2010 kam es zu einem Sys­tem­wech­sel, der erst­mals bei den Natio­nal­rats­wah­len 2015 zum Tra­gen kam. Seit­her wer­den nicht mehr alle zehn Jah­re Per­so­nen gezählt, son­dern es wer­den jähr­lich Regis­ter­da­ten erfasst.

Dank der jähr­li­chen Erhe­bung der Bevöl­ke­rungs­zahl kön­nen nun für jede Natio­nal­rats­wahl die Sit­ze neu auf die Kan­to­ne ver­teilt wer­den. Die mass­ge­ben­de Zahl für die Sitz­ver­tei­lung ist die «stän­di­ge Wohn­be­völ­ke­rung». Die­se wird aus den kan­to­na­len und kom­mu­na­len Ein­woh­ner­re­gis­tern sowie aus den Bun­des­per­so­nen­re­gis­tern im Aus­län­der- und Zivil­stands­be­reich ermit­telt. Zur «stän­di­gen Wohn­be­völ­ke­rung» gehö­ren Per­so­nen schwei­ze­ri­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit sowie aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge mit einer Auf­ent­halts- oder Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung für min­des­tens zwölf Mona­te und Per­so­nen im Asyl­pro­zess mit einer Gesamt­auf­ent­halts­dau­er von min­des­tens zwölf Mona­ten. Nicht berück­sich­tigt wer­den die Aus­land­schwei­ze­rin­nen und ‑schwei­zer.

Wohnbevölkerung als Basis für die Sitzverteilung

Basis für die Sitz­ver­tei­lung auf die Kan­to­ne, wel­che die Wahl­krei­se dar­stel­len, ist die Wohn­be­völ­ke­rung. Dies leg­te bereits die Bun­des­ver­fas­sung von 1848 fest: Die Schwei­zer Wohn­be­völ­ke­rung und nicht etwa die Schwei­zer Bür­ger oder Stimm­be­rech­tig­ten sol­len für die Ver­tei­lung der Natio­nal­rats­sit­ze auf die Kan­to­ne mass­ge­bend sein. Arti­kel 61 hielt fest: «Der Natio­nal­rath wird aus Abge­ord­ne­ten des schwei­ze­ri­schen Vol­kes gebil­det. Auf je 20‘000 See­len der Gesammt­be­völ­ke­rung wird ein Mit­glied gewählt. Eine Bruch­zahl über 10‘000 See­len wird für 20‘000 See­len berechnet».

Damit soll­te zum Aus­druck gebracht wer­den, dass im Natio­nal­rat die gesam­te Wohn­be­völ­ke­rung reprä­sen­tiert sein soll, also auch jene, die kein Stimm­recht hat­ten wie damals die Frau­en oder die Aus­län­der, die unter-20-Jäh­ri­gen und jene, wel­che die Gemein­den aus Grün­den wie Armen­ge­nös­sig­keit oder Nicht­be­zah­lung von Steu­ern von den poli­ti­schen Rech­ten aus­ge­schlos­sen hat­ten. Die Bestim­mung der «Gesammt­be­völ­ke­rung» als Refe­renz­grös­se für die Sitz­ver­tei­lung wur­de immer wie­der und bis in die heu­ti­gen Tage in Fra­ge gestellt, sie wur­de aber eben­so häu­fig vom Par­la­ment und in Volks­ab­stim­mun­gen bestätigt.

Kontinuierliches Wachstum der Bevölkerung und des Nationalrates

Bei den ers­ten Natio­nal­rats­wah­len von 1848 waren 111 Sit­ze zu beset­zen. Infol­ge des Bevöl­ke­rungs­wachs­tums im 19. Jahr­hun­dert stieg die Zahl der Natio­nal­rats­sit­ze kon­ti­nu­ier­lich an und erreich­te 1890 147 Sit­ze und 1911 bereits 189 Sitze.In den gros­sen Städ­ten wuch­sen die Aus­län­der­zah­len beson­ders stark. Es über­rascht dar­um nicht, dass die «Gesammt­be­völ­ke­rung» als Berech­nungs­ba­sis für die Ver­tei­lung der Natio­nal­rats­sit­ze sei­tens der kon­ser­va­ti­ven länd­li­chen Kan­to­ne unter Beschuss kam.

Abbildung 2: Die Entwicklung der Zahl der Nationalratssitze seit 1848

Erläu­te­rung:

1 Ände­rung der Ver­tre­tungs­zif­fer: 1931 und 1950
2 Fest­le­gung der Zahl der Sit­ze auf 200: 1962 

Quel­le: Gru­ner 1978, Band 1A, S. 94 f. und S. 101; Band 3, S. 460 f.; BFS-Wahlstatistik

Ende der 1890er Jah­re lan­cier­ten die bei­den Bau­ern­po­li­ti­ker und Natio­nal­rä­te Charles-Eugè­ne Fon­ja­l­laz (FDP, VD) und Can­did Hoch­stras­ser (Katho­lisch-Kon­ser­va­tiv, heu­te: CVP, LU) mit Unter­stüt­zung des Zür­cher Bau­ern­bun­des eine Volks­in­itia­ti­ve, wel­che die Natio­nal­rats­sit­ze auf der Basis der Wohn­be­völ­ke­rung mit Schwei­zer Staats­bür­ger­schaft ver­tei­len wollte.

Initia­ti­ve für die Ver­tei­lung der Natio­nal­rats­sit­ze auf Basis der Schwei­zer Staatsbürger

Das Ziel der Initi­an­ten war, das Gewicht der bäu­er­li­chen Bevöl­ke­rung im Natio­nal­rat zu heben. Im Abstim­mungs­kampf tra­ten aber auch «ein­deu­tig frem­den­feind­li­che Züge» zu Tage (Sigg 1978: 104). Mit ihrem Slo­gan «Die Schweiz den Schwei­zern» mach­te ein Initia­tiv­ko­mi­tee erst­mals die aus­län­di­sche Bevöl­ke­rung zum Streit­ob­jekt einer Volksinitiative.

Bun­des­rat und Par­la­ment stell­ten sich gegen das Begeh­ren. Der Bun­des­rat mach­te gel­tend, dass die Aus­län­der in der Schweiz kei­ne poli­ti­schen Rech­te besäs­sen, dass sie aber Steu­ern und Zöl­le bezahl­ten, den glei­chen Geset­zen unter­stün­den und den Wohl­stand des Lan­des för­dern hel­fen wür­den. Es sei daher «nur recht und bil­lig…, dass sie wenigs­tens bei der Aus­mit­t­lung der Ver­tre­ter­zahl mit in Betracht gezo­gen wer­den» (BBl, 1902, V, S. 564). Die Gesamt­be­völ­ke­rung wer­de zudem auch in 18 Kan­to­nen als Basis für die Ver­tei­lung der kan­to­na­len Par­la­ments­sit­ze auf die Wahl­krei­se ver­wen­det; nur in fünf Kan­to­nen (ZH, LU, UR, NW, TI) sei die Zahl der Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mass­ge­bend, in zwei Kan­to­nen (TG, VD) die Zahl der Stimmberechtigten.

In der Volks­ab­stim­mung vom Okto­ber 1903 nahm nur gera­de knapp ein Vier­tel der Stim­men­den die Vor­la­ge an. In den katho­lisch-kon­ser­va­ti­ven Stamm­lan­den jedoch betrug die durch­schnitt­li­che Zustim­mung 57 Pro­zent (ange­nom­men wur­de sie in UR, OW, NW, FR und VS). In den übri­gen Kan­to­nen wur­de die Vor­la­ge ver­wor­fen, sehr deut­lich etwa in Genf (ledig­lich drei Pro­zent Ja-Stim­men) und Basel-Stadt (elf Pro­zent Ja-Stimmen).

Das anhal­ten­de Bevöl­ke­rungs­wachs­tum der Schweiz führ­te dazu, dass der Natio­nal­rat in den 1920er Jah­ren bereits aus 198 Sit­zen bestand, für die 1930er Jah­re wur­den 206 Sit­ze pro­gnos­ti­ziert. Eine sol­che Par­la­ments­kam­mer schien wie­der man­chen zu gross und so reich­te der katho­lisch-kon­ser­va­ti­ve St. Gal­ler Edu­ard Gunt­li ein Pos­tu­lat ein, in dem er anreg­te, die Ver­tre­tungs­zif­fer zu erhö­hen oder doch nur noch die Schwei­zer Bevöl­ke­rung als Ver­tei­lungs­ba­sis zu neh­men. Der Zür­cher Sozi­al­de­mo­krat Emil Klö­ti wie­der­um schlug eine fixe Zahl von Natio­nal­rats­sit­zen vor. Der Bun­des­rat wand­te sich einer­seits gegen einen Sys­tem­wech­sel zur Schwei­zer Bevöl­ke­rung als Berech­nungs­grund­la­ge, and­rer­seits aber auch gegen «das Sys­tem der fes­ten Zahl» (BBl 1930, II, S. 205 ff.).

Der Vor­schlag, der im März 1931 schliess­lich zur Volks­ab­stim­mung kam, sah eine Ände­rung der Ver­tre­tungs­zif­fer von 20’000 auf «22’000 See­len der Gesamt­be­völ­ke­rung» vor. Geschlos­sen für die­se Ände­rung waren die kon­ser­va­ti­ven Libe­ra­len und die BGB (heu­te SVP), bei den Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven wichen eini­ge Kan­to­nal­par­tei­en von der Ja-Paro­le ab. Die FDP gab die Stim­me frei. Als ein­zi­ge Par­tei bekämpf­te die SP die Vor­la­ge, weil sie kei­ne Ver­klei­ne­rung des Natio­nal­ra­tes woll­te. Nach einem eher lust­los geführ­ten Abstim­mungs­kampf wur­de die Ver­fas­sungs­än­de­rung im März 1931 mit nur gera­de 54 Pro­zent Ja-Stim­men angenommen.

Keine Chance für die «Pfändler-Initiative»

1940 lan­cier­te der Lan­des­ring der Unab­hän­gi­gen (LdU), der 1936 gegrün­det wor­den war und vor allem in der Deutsch­schweiz fast sech­zig Jah­re lang die poli­ti­sche Mit­te besetz­te, eine Volks­in­itia­ti­ve «für die Reor­ga­ni­sa­ti­on des Natio­nal­ra­tes». Die­se ver­lang­te, dass die Ver­tre­tungs­zif­fer auf 30’000 Ein­woh­ner erhöht und dass die Amts­dau­er auf zwölf Jah­re beschränkt wer­de. Wei­ter soll­ten die vor­ge­druck­ten Kumu­la­tio­nen auf den Wahl­lis­ten abge­schafft und der Beruf und die Ver­wal­tungs­rats­man­da­te amt­lich bekannt gege­ben wer­den. Im Abstim­mungs­kampf stand der LdU allei­ne da. Alle ande­ren Par­tei­en waren geschlos­sen gegen die Initia­ti­ve, die nach ihrem Pro­mo­tor Otto Pfänd­ler, dem St. Gal­ler Natio­nal­rat und Geschäfts­lei­ter des LdU, auch «Pfänd­ler-Initia­ti­ve» genannt wur­de. In der Volks­ab­stim­mung vom Mai 1942 wur­de die Vor­la­ge mit 35 Pro­zent Ja-Stim­men abgelehnt.

Erneute Erhöhung der Vertretungsziffer…

Das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum brach­te es mit sich, dass in den 1940er Jah­ren die Sitz­zahl im Natio­nal­rat bereits wie­der auf 194 zu lie­gen kam. Der Bun­des­rat zeig­te sich daher bereit, das Pos­tu­lat des Zür­cher Frei­sin­ni­gen Her­mann Häber­lin für eine Erhö­hung der Ver­tre­tungs­zif­fer von 22’000 auf 24’000 ent­ge­gen zu neh­men. Wie­der wur­de in den poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen die Beschrän­kung der Ver­tei­lungs­ba­sis auf die Schwei­zer Bevöl­ke­rung vor­ge­schla­gen, erneut ohne Chan­ce. Alle Par­tei­en stell­ten sich schliess­lich hin­ter die vor­ge­schla­ge­ne Ände­rung. In der Volks­ab­stim­mung vom Dezem­ber 1950 wur­de die Erhö­hung der Ver­tre­tungs­zif­fer mit 67 Pro­zent Ja-Stim­men gut geheissen.

… und der Wechsel zum «Rat der 200»

Doch auch mit der Ver­tre­tungs­zif­fer 24’000 kam die Zahl der Sit­ze im Natio­nal­rat für die 1950er Jah­re auf 196 zu lie­gen. Ange­sichts des anhal­ten­den Bevöl­ke­rungs­wachs­tums schlug der Bun­des­rat 1961 einen Wech­sel auf eine fixe Zahl der Natio­nal­rats­sit­ze vor, nach­dem er sich bis­her stets gegen einen «nume­rus clau­sus» gewehrt hat­te. Auch wenn in den par­la­men­ta­ri­schen Ver­hand­lun­gen ein wei­te­res Mal vor­ge­schla­gen wur­de, die Ver­tei­lungs­ba­sis auf die Schwei­zer Bevöl­ke­rung zu beschrän­ken, wur­de die­sem Vor­schlag nicht stattgegeben.

Im Hin­blick auf die Volks­ab­stim­mung spra­chen sich alle Par­tei­en für den Wech­sel zum «Rat der 200» aus, aus­ser die Katho­lisch-Kon­ser­va­ti­ven, wel­che Stimm­frei­ga­be beschlos­sen. Regio­na­le Oppo­si­ti­on gab es allen­falls dort, wo Sitz­ver­lus­te befürch­tet wur­den (GL, FR, GR und TI). Bei einer sehr schwa­chen Stimm­be­tei­li­gung von 36% wur­de die Vor­la­ge mit 64% Ja-Stim­men ange­nom­men. 19 Kan­to­ne stimm­ten ihr zu, klar ver­wor­fen wur­de sie in Gla­rus und Frei­burg (mit rund 15% Ja-Stim­men) sowie in Grau­bün­den (23%). Damit wur­de jene Rege­lung ein­ge­führt, die auch heu­te noch gilt. Wäh­rend die­se Rege­lung unbe­strit­ten blieb, gab es in der Fol­ge immer wie­der par­la­men­ta­ri­sche Vor­stös­se betref­fend Ände­rung der Schwei­zer Wohn­be­völ­ke­rung als Refe­renz­grös­se für die Sitz­ver­tei­lung. Sie waren alle­samt nicht erfolgreich.

Die pro­por­tio­na­le Ver­tei­lung der 200 Sit­ze auf die Kan­to­ne erfolgt nach dem Bruch­zahl­ver­fah­ren. Die­ses wird auch Hamil­ton-Ver­fah­ren genannt (nach dem ame­ri­ka­ni­schen Grün­der­va­ter Alex­an­der Hamil­ton, 1755–1804) oder Hare-Ver­fah­ren (nach dem Eng­län­der Tho­mas Hare, 1806–1891) oder schlicht: Metho­de mit dem «gröss­ten Rest».

Die Metho­de mit dem «gröss­ten Rest»
Das Bruch­zahl­ver­fah­ren ist nicht das­sel­be Ver­tei­lungs­ver­fah­ren wie jenes, das seit 1919 bei der pro­por­tio­na­len Ver­tei­lung der Natio­nal­rats­man­da­te auf die Par­tei­en zur Anwen­dung kommt. Die­ses wird in der Schweiz Hagen­bach-Bisch­off-Ver­fah­ren genannt und stand bei den par­la­men­ta­ri­schen Ver­hand­lun­gen über die Geset­zes­än­de­rung eben­falls zur Dis­kus­si­on. Weil bei die­sem aber die Klei­ne­ren gegen­über den Grös­se­ren etwas im Nach­teil sind, gab man der Metho­de mit dem «gröss­ten Rest» den Vor­zug, denn die­se macht bei der Ver­tei­lung der Rest­man­da­te kei­nen Unter­schied zwi­schen den Gros­sen und den Klei­nen. Damit woll­te man auch den länd­li­chen Ver­tre­tern ent­ge­gen kom­men, wel­che sich durch die Sitz­ver­tei­lung auf der Basis der «Gesamt­be­völ­ke­rung» benach­tei­ligt fühl­ten (Amtl. Bull., StR, 1963, Bd I, S. 1 ff).
Das Verteilungsverfahren für die Nationalratswahlen 2019

Das Bruch­zahl­ver­fah­ren wird von Arti­kel 17 des Bun­des­ge­set­zes über die poli­ti­schen Rech­te in drei Schrit­ten kon­kre­ti­siert. Zuerst wird – in der so genann­ten Vor­weg­ver­tei­lung – jenen Kan­to­nen ein Sitz zuge­teilt, deren Bevöl­ke­rungs­zahl klei­ner ist als 1/200 der Gesamt­be­völ­ke­rung. Damit wird der Ver­fas­sungs­be­stim­mung nach­ge­kom­men, die jedem Kan­ton einen Sitz im Natio­nal­rat zuge­steht. Für die Natio­nal­rats­wah­len 2019 sind dies – wie schon 2015 – die vier Kan­to­ne Uri, Obwal­den, Gla­rus und Appen­zell Innerrhoden.

Die­se vier Kan­to­ne schei­den nun für die wei­te­re Ver­tei­lung aus. Für die eigent­li­che Haupt­ver­tei­lung wird eine Ver­tei­lungs­zahl ermit­telt, indem die Ein­woh­ner­zahl der ver­blei­ben­den Kan­to­ne durch die Zahl der noch nicht ver­teil­ten Sit­ze divi­diert wird. Dar­auf wird für jeden Kan­ton die Ein­woh­ner­zahl durch die­se Ver­tei­lungs­zahl divi­diert. Jeder Kan­ton erhält so vie­le Sit­ze, wie sein Haupt­ver­tei­lungs­quo­ti­ent vor dem Kom­ma anzeigt.

Nach der Vor­weg- und der Haupt­ver­tei­lung ver­blei­ben nor­ma­ler­wei­se immer noch eini­ge rest­li­che Sit­ze. Dies­mal, d.h für die Wah­len 2019, waren es deren elf. Die­se wer­den in der soge­nann­ten Rest­ver­tei­lung jenen Kan­to­nen zuge­teilt, deren Haupt­ver­tei­lungs­quo­ti­en­ten die gröss­te Rest­zahl hin­ter dem Kom­ma auf­wei­sen (SZ, ZG, BS, BL, SH, SG, GR, AG, VD, GE und JU). Waadt und Genf konn­ten dank die­ser Rest­man­da­te ihre Sitz­zahl im Natio­nal­rat auf 19 bzw. 12 Sit­ze stei­gern. Für bei­de Kan­to­ne sind dies ihre höchs­ten Sitz­zah­len seit 1848. Genf hol­te übri­gens das 9. Rest­man­dat, die Waadt das elf­te (und letz­te). Je ein Man­dat ver­lo­ren dage­gen die Kan­to­ne Bern und Luzern. Bern ver­lor sei­nen Sitz deut­lich, Luzern ver­fehl­te sein Rest­man­dat jedoch nur knapp.

Mit der Neu­ver­tei­lung der Sit­ze für die Natio­nal­rats­wah­len 2019 sinkt in den Kan­to­nen, die einen zusätz­li­chen Sitz erhal­ten, der Schwel­len­wert für ein siche­res Voll­man­dat: in der Waadt von 5,3 Pro­zent auf fünf Pro­zent der Stim­men und in Genf 8,3 Pro­zent auf 7,7 Pro­zent. In den Kan­to­nen Bern und Luzern wird es dage­gen für die Par­tei­en etwas schwie­ri­ger: Sie müs­sen bei den kom­men­den Natio­nal­rats­wah­len in Bern vier Pro­zent statt 3,8 Pro­zent der Stim­men für ein Voll­man­dat auf­brin­gen, in Luzern zehn Pro­zent statt 9,1 Prozent.

In klei­nen Kan­to­nen ist der Pro­porz eingeschränkt»
Die Anzahl der Sit­ze, wel­che den ein­zel­nen Kan­to­nen im Natio­nal­rat zuste­hen, bestimmt die Höhe des rela­ti­ven Stim­men­an­teils, den eine Par­tei bzw. eine Wahl­lis­te in einem Kan­ton über­schrei­ten muss, um ein siche­res Man­dat (ein sog. Voll­man­dat) zu erhal­ten. Die­ser Stim­men­an­teil, auch «Schwel­len­wert» genannt, berech­net sich, indem der Wert 100% durch die um 1 erhöh­te Zahl der Natio­nal­rats­sit­ze des Kan­tons divi­diert wird. Bei zwei Sit­zen z.B. beträgt der zu über­tref­fen­de Schwel­len­wert 33,3%.

In Kan­to­nen mit einer nied­ri­gen Sitz­zahl ist der «Schwel­len­wert» hoch, und der Pro­por­z­ef­fekt ist stark ein­ge­schränkt. In sechs Kan­to­nen, in denen nur ein Sitz zu ver­ge­ben ist, wird gar nach Majorz gewählt (UR, OW, NW, GL, AI und AR). In wei­te­ren 14 Kan­to­nen sind zwei bis neun Sit­ze zu ver­ge­ben: in die­sen müs­sen die Par­tei­en theo­re­tisch einen Stim­men­an­teil von 10% (bei 9 Sit­zen) bzw. 33,3% (bei 2 Sit­zen) über­tref­fen, um ein Voll­man­dat zu erhal­ten. Klei­ne Par­tei­en und Grup­pie­run­gen haben so vor allem in gros­sen Kan­to­nen eine Chan­ce auf einen Natio­nal­rats­sitz, nament­lich in den sechs Kan­to­nen mit zwölf oder mehr Sit­zen (ZH: 35, BE: 24, VD: 19, AG: 16; SG und GE: je 12). In die­sen bewegt sich der zu über­schrei­ten­de «Schwel­len­wert» für ein Voll­man­dat zwi­schen 2,8% und 7,7%. Eine Par­tei kann aber auch mit einem nied­ri­ge­ren Stim­men­an­teil einen Sitz gewin­nen, wenn sie ihre Wahl­lis­te mit einer oder meh­re­ren Wahl­lis­ten ande­rer Par­tei­en ver­bin­det. Zudem kön­nen auch klei­ne­re Par­tei­en gele­gent­lich in den Genuss eines Rest­man­da­tes kommen.

Hin­weis: Bei die­sem Text han­delt es sich um eine aktua­li­sier­te, über­ar­bei­te­te Fas­sung des Tex­tes “Ein Jahr vor den Natio­nal­rats­wah­len”, der am 7. Okto­ber 2014 in der Online-Zei­tung Journal21 erschie­nen ist.


Lite­ra­tur

  • Gru­ner, Erich (1978). Die Wah­len in den schwei­ze­ri­schen Natio­nal­rat 1848–1919. Wahl­recht, Wahl­sys­tem, Wahl­be­tei­li­gung, Ver­hal­ten von Wäh­lern und Par­tei­en, Wahl­the­men und Wahl­kämp­fe. Bern: Francke Verlag.
  • Lin­der, Wolf / Bol­li­ger, Chris­ti­an / Riel­le, Yvan (Hg.), unter Mit­ar­beit von Ros­wi­tha Dubach, Manu­el Graf, Bri­git­te Men­zi (2010). Hand­buch der eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen 1848 bis 2007. Bern: Haupt Verlag.
  • Lutz, Georg / Stroh­mann, Dirk (1998). Wahl- und Abstim­mungs­recht in den Kan­to­nen / Droits poli­ti­ques dans les can­tons. Bern: Haupt Verlag.
  • Sigg, Oswald (1978). Die eid­ge­nös­si­schen Volks­in­itia­ti­ven 1892–1939.Bern: Francke-Ver­lag.
  • Szpi­ro, Geor­ge G. (2011). Die ver­flix­te Mathe­ma­tik der Demo­kra­tie. Zürich: NZZ-Ver­lag.

Bild: Natio­nal­rats­saal, Parlamentsdienste.

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