The Best of Both Worlds? Der Bundesrat, das Tessin und die Geschlechtergleichheit

Bald ist es wie­der so weit: Die Ver­ei­nig­te Bun­des­ver­samm­lung wählt im Sep­tem­ber ein neu­es Mit­glied in den Bun­des­rat. Kaum hat­te Didier Burk­hal­ter sei­nen Rück­tritt ange­kün­digt, mach­ten auch schon die ver­schie­dens­ten Anspruchs­mel­dun­gen die Run­de. Die ita­lie­nisch­spra­chi­ge Schweiz – das Tes­sin und der ita­lie­nisch­spra­chi­ge Teil des Bünd­ner­lands – sol­le ver­tre­ten sein. Jemand aus der FDP auf jeden Fall. Aber auch Ost‑, Zen­tral- und Nord­west­schweiz wür­den ger­ne wie­der im Bun­des­rat sit­zen. Und wäre es nicht eben­so an der Zeit, wie­der mehr als bloss zwei Frau­en in der Regie­rung zu haben? Doch der Rei­he nach.

 Ver­sio­ne italiana

Bezüg­lich per­so­nel­ler Zusam­men­set­zung des Bun­des­ra­tes gibt es nur weni­ge for­ma­le Vor­ga­ben – und die weni­gen, die es gibt, sind schwam­mig genug, um eine brei­te Inter­pre­ta­ti­on zuzu­las­sen (Lin­der & Muel­ler 2017:273ff.). So gilt seit 1999: Bei der Wahl des Bun­des­ra­tes „ist dar­auf Rück­sicht zu neh­men, dass die Lan­des­ge­gen­den und Sprach­re­gio­nen ange­mes­sen ver­tre­ten sind.“ (Art. 175.2 BV). Die fran­zö­si­schen und ita­lie­ni­schen Ver­sio­nen der Bun­des­ver­fas­sung hin­ge­gen sind expli­zi­ter und ver­bind­li­cher, spre­chen doch bei­de von „müs­sen“ und (en fran­çais) Sprachgemein­schaf­ten, nicht ‑regio­nen:

«Les diver­ses régi­ons et les com­mu­n­au­tés lin­gu­is­ti­ques doiv­ent être équi­ta­ble­ment repré­sen­tées au Con­seil fédé­ral. Le diver­se regio­ni e le com­po­nen­ti lin­gu­i­s­ti­che del Paese devo­no esse­re equa­men­te rappresentate.»

Nicht in der Ver­fas­sung fest­ge­hal­ten sind hin­ge­gen die ande­ren Kri­te­ri­en, wel­che die Bestel­lung des Bun­des­ra­tes prä­gen. Lan­ge Zeit war dies die Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit, spä­ter dann die Par­tei und schliess­lich das Geschlecht. Die Klau­sel, wonach höchs­tens ein Mit­glied pro Kan­ton Ein­sitz neh­men darf, wur­de erst 1999 abge­schafft. Seit­her kam es schon zwei­mal vor, dass der­sel­be Kan­ton zwei Bun­des­rä­te stellt (Zürich 2004-07, Bern seit 2010).

Jetzt sind die Italienischsprachigen an der Reihe

Wenn wir nun zuerst die Kan­to­ne betrach­ten und ihren Anteil an allen Bun­des­rä­ten mit dem gegen­wär­ti­gen Bevöl­ke­rungs­an­teil ver­glei­chen, resul­tiert ein ziem­lich aus­ge­gli­che­nes Bild (Abbil­dung 1). Am stärks­ten über­ver­tre­ten sind gemäss die­ser Dar­stel­lung Neu­en­burg, die Waadt und auch das Tes­sin. War­um gera­de die drei? Wohl auch wegen der Sprache.

Abbildung 1: Kantonaler Anteil Bundesräte & Bevölkerung, in %

guidici_1

Quellen: BFS (2017) & Giudici/Stojanovic (2016)

War­um die Spra­che? Wegen der Ver­bin­dung von Föde­ra­lis­mus und Kon­kor­danz. Nen­ad Sto­ja­no­vić (2017) hat in sei­nem eben erschie­ne­nen Buch­ka­pi­tel unter­sucht, inwie­fern die schwei­ze­ri­schen poli­ti­schen Sys­te­me (Bund und die vier mehr­spra­chi­gen Kan­to­ne) dem Ide­al der „kon­so­zia­tio­na­len Demo­kra­tie“ (Lij­phart 2004) ent­spre­chen. Dem­ge­mäss respek­tiert die Bun­des­ebe­ne die Inklu­si­on sei­ner sprach­li­chen Min­der­hei­ten in der Regie­rung nur infor­mell – und mit Unter­brü­chen. In der Tat ist es bereits 18 Jah­re her, seit der letz­te Ita­lie­nisch­spre­chen­de Bun­des­rat, Fla­vio Cot­ti, sein Amt nie­der­leg­te. Weil trotz des Rück­tritts von Burk­hal­ter die Roman­die nach wie vor mit zwei Bun­des­rä­ten ver­tre­ten sein wird und der Anspruch der FDP von nie­man­dem wirk­lich bestrit­ten wird, froh­lockt sogar der „Blick“ – so sehr, dass er zur Unter­maue­rung sei­nes Anlie­gens gleich die gan­ze Bun­des­haus­re­dak­ti­on eine Woche ins Tes­sin ver­leg­te.

Oder doch kein Tessiner?

Zwei gros­se Bro­cken Alp­ge­stein nur könn­ten einem ach­ten Tes­si­ner Bun­des­rat den Weg ver­stel­len: Die Ost­schweiz und die Geschlech­ter­fra­ge. Ers­te­re fühlt sich spä­tes­tens seit dem Nicht­wi­de­r­an­tritt von Eve­li­ne Wid­mer-Schlumpf (2015) über­gan­gen. Bereits zwei Erklä­run­gen hat die Regie­rungs­kon­fe­renz Ost­schweiz ver­öf­fent­licht, um „den Anspruch auf einen Sitz der Ost­schweiz im Bun­des­rat [zu] unter­mau­ern.“ Und auch wenn die FDP Schweiz mit­ge­teilt hat, dass jemand aus der „latei­ni­schen Schweiz“ gesucht wird: Dort­hin gehö­ren auch die Räto­ro­ma­nen, und mit einem Bünd­ner oder einer Bünd­ne­rin wäre auch die Ost­schweiz wie­der in der Regierung.

Auch die Frau­en kön­nen einen legi­ti­men Anspruch gel­tend machen. Obwohl nicht expli­zit in der Bun­des­ver­fas­sung fest­ge­hal­ten – das Par­la­ment hat­te 1998 einen ent­spre­chen­den Vor­schlag der dama­li­gen Stän­de­rä­tin Chris­tia­ne Brun­ner (SP/Genf) klar abge­lehnt –, gilt doch der Gleich­stel­lungs­ar­ti­kel (Art. 8.3 BV) auch für die Poli­tik. Im direk­ten Ver­gleich mit den bereits ange­mel­de­ten Ansprü­chen – Tes­sin und Ost­schweiz – fin­det sich hier gar der weit­aus stärks­te Anspruch (Abbil­dung 2). Zudem zei­gen wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en, dass die Qua­li­tät von Debat­ten und damit auch von Ent­schei­den steigt, je mehr ver­schie­de­ne Gesichts­punk­te hin­ein­ge­tra­gen wer­den (z.B. Mans­bridge 1999). Spe­zi­ell auf das Geschlecht bezo­gen hat die­ses Argu­ment sogar der aktu­el­le Bun­des­kanz­ler in einem Inter­view mit der NZZ angeführt.

Abbildung 2: Vergleich Bevölkerung und Anteil Bundesräte, sieben Grossregionen und Frauen

guidici_2

Quellen: BFS (2017) & Giudici/Stojanovic (2016)
Zeit für etwas Kreativität!

Es wäre aller­dings ein Leich­tes, min­des­tens zwei der drei bestehen­den Ansprü­che zu ver­ei­nen. Dies geschä­he, wenn am 20. Sep­tem­ber die Ver­ei­nig­te Bun­des­ver­samm­lung eine Tes­si­ne­rin wäh­len wür­de. Sowie­so waren alle bis­he­ri­gen sie­ben Tes­si­ner Bun­des­rä­te Män­ner, und die FDP war zwar die ers­te Par­tei mir einer weib­li­chen Ver­tre­tung in der Regie­rung (Eli­sa­beth Kopp, 1984–89), aber auch hier nur noch Män­ner seit nun­mehr 28 Jah­ren. Übri­gens: Einen Ver­tre­ter aus dem Ita­lie­nisch­bün­den gab es noch gar nie – geschwei­ge denn eine Ver­tre­terin. Fän­de sich also eine Frei­sin­ni­ge aus dem Misox, Puschlav, Ber­gell oder Calan­ca­tal, wären nicht nur die Ita­lie­nisch­spra­chi­gen und die Frau­en, son­dern gar die Ost­schwei­zer zufrie­den und die föde­ra­le Kon­kor­danz somit drei­fach geheilt.


Refe­ren­zen

  • Giu­di­ci, Anja und Nen­ad Sto­ja­no­vic (2016). Die Zusam­men­set­zung des Schwei­ze­ri­schen Bun­des­ra­tes nach Par­tei, Regi­on, Spra­che und Reli­gi­on, 1848–2015. Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 22(2): 288–307.
  • Lij­phart, Arend (2004). Con­sti­tu­tio­nal design for divi­ded socie­ties. Jour­nal of Demo­cra­cy 15(2): 96–109.
  • Lin­der, Wolf und Sean Muel­ler (2017). Schwei­ze­ri­sche Demo­kra­tie: Insti­tu­tio­nen, Pro­zes­se und Per­spek­ti­ven. 4., voll­stän­dig über­ar­bei­te­tet und aktua­li­sier­te Auf­la­ge, Bern: Haupt Verlag.
  • Mans­bridge, Jane (1999). Should blacks repre­sent blacks and women repre­sent women? A con­tin­gent “yes”. Jour­nal of Poli­tics 61(3): 628–57.
  • Sto­ja­no­vić, Nen­ad (2017). La Sviz­ze­ra, una con­so­cia­zio­ne lin­gu­is­ti­ca? Le min­oran­ze lin­gu­i­s­ti­che a livel­lo federa­le e nei Can­to­ni plu­ri­lin­gui. In: Sean Muel­ler und Anja Giu­di­ci (Hrsg.). Il federa­lis­mo sviz­ze­ro – Atto­ri, strut­tu­re, pro­ces­si. Locar­no: Arman­do Dadò, 125–58

Foto: Wiki­me­dia Commons.

image_pdfimage_print