Der «Fall Carlos» als Kollateralschaden der politischen Polarisierung

Heu­te fand in Zürich ein wei­te­rer Pro­zess gegen Bri­an ali­as “Car­los” statt. Der schweiz­weit bekann­te Straf­tä­ter muss sich wegen meh­re­rer Delik­te, die er im Straf­voll­zug began­gen haben soll, ver­ant­wor­ten. Der Fall «Car­los» ist nichts ande­res als ein Kol­la­te­ral­scha­den eines zuneh­mend pola­ri­sier­ten poli­ti­schen Sys­tems. Auf­grund einer bei­spiel­lo­sen Kam­pa­gne in Medi­en und Poli­tik folg­ten poli­ti­sche Akteu­re einer Hand­lungs­lo­gik, die pri­mär dazu dien­te, per­sön­li­chen Scha­den abzu­wen­den statt die Vor­ga­ben des Jugend­straf­rechts umzu­set­zen. Eine bedenk­li­che Ent­wick­lung in einer Demo­kra­tie.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de am 6. März 2017 erstpubliziert.

Striktere Anwendung des Jugendstrafrechts

Nach­dem das the­ra­peu­tisch erfolg­rei­che Son­der­set­ting für «Car­los» durch eine aggres­si­ve Medi­en­kam­pa­gne ange­grif­fen wur­de, ent­schie­den sich ver­ant­wort­li­che Poli­ti­ker und Voll­zugs­be­hör­den für einen Abbruch. Auf­grund anhal­ten­der media­ler und poli­ti­scher Empö­rung sträub­ten sie sich trotz eines güns­ti­ge­ren Ange­bots und einer Emp­feh­lung des neu ver­ant­wort­li­chen Jugend­an­walts lan­ge Zeit dage­gen, das für «Car­los» vor­ge­se­he­ne Son­der­set­ting wie­der ein­zu­füh­ren. Erst ein Bun­des­ge­richts­be­schluss, der die Wie­der­ein­füh­rung des Son­der­set­tings erzwang, konn­te die Poli­tik an den Rechts­staat zurückzubinden.

Die wochen­lan­ge Empö­rung über das teu­re Son­der­set­ting führ­te sowohl im kon­kre­ten Straf­rechts­fall als auch dar­über hin­aus zu einer strik­te­ren Anwen­dung des Jugend­straf­rechts. Sta­tis­ti­ken sowie Aus­sa­gen von prak­ti­zie­ren­den Jugend­an­wäl­tIn­nen las­sen ver­mu­ten, dass Fäl­le wie die «Carlos»-Affäre schweiz­weit in bestimm­ten Fäl­len zu einer ver­schärf­ten Anwen­dung des Jugend­straf­rechts füh­ren. Die­se Ent­wick­lung wird erklär­bar, wenn das Ent­schei­dungs­kal­kül der ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­ker ana­ly­siert wird.

Die Affä­re um den Fall «Car­los»
Im Jahr 2013 erreg­te der Fall eines viel­fach ver­ur­teil­ten jugend­li­chen Straf­tä­ters die Schweiz. «Car­los», wie der Jugend­li­che in den Medi­en genannt wird, wur­de in einem the­ra­peu­ti­schen Son­der­set­ting behan­delt, nach­dem er 2011 eine Per­son lebens­ge­fähr­lich mit einem Mes­ser ver­letzt hat­te. Nach meh­re­ren wir­kungs­lo­sen behörd­li­chen Ein­grif­fen und Mass­nah­men stell­te die­ses Son­der­set­ting die ers­te funk­tio­nie­ren­de Mass­nah­me für den Straf­tä­ter dar.

Das Son­der­set­ting wur­de der Öffent­lich­keit auf Grund einer TV-Repor­ta­ge im Schwei­zer Fern­se­hen bekannt. Nach der Aus­strah­lung des Films star­te­te der Blick eine Kam­pa­gne über das monat­lich fast 30’000 Fran­ken teu­re Son­der­set­ting. In der Fol­ge wur­de das The­ma sowohl von ande­ren Medi­en wie auch von bür­ger­li­chen Par­tei­en auf­ge­nom­men und schlug sehr hohe Wel­len. Den Zür­cher Jugend­straf­be­hör­den wur­de lin­ke Kuschel­jus­tiz und die Ver­schwen­dung von Steu­er­gel­dern vor­ge­wor­fen. Unter dem immer stär­ker wer­den­den media­len und poli­ti­schen Druck been­de­ten die Behör­den das Son­der­set­ting und ver­wie­sen «Car­los» in eine geschlos­se­ne Insti­tu­ti­on. In einer zwei Wochen nach Bekannt­wer­den des Son­der­set­tings anbe­raum­ten Pres­se­kon­fe­renz sowie in einem Inter­view beteu­er­ten der ver­ant­wort­li­che Regie­rungs­rat und der lei­ten­de Ober­ju­gend­an­walt ihre Unwis­sen­heit über Details des Son­der­set­tings sowie beschul­dig­ten den unmit­tel­bar ver­ant­wort­li­chen Jugendanwalt.

Als im April die Affä­re im Kan­tons­rat dis­ku­tiert wur­de, sah sich der Regie­rungs­rat beis­sen­der Kri­tik haupt­säch­lich von­sei­ten bür­ger­li­cher Par­tei­en aus­ge­setzt. Trotz­dem wur­de die Bil­dung einer Par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­kom­mis­si­on durch eine Mehr­heit im Kan­tons­rat abge­lehnt sowie ein Vor­stoss der SVP auf natio­na­ler Ebe­ne abge­wie­sen, das Jugend­straf­recht zu verschärfen.

Politisches Entscheidungsverhalten im Angesicht medialer und politischer Empörung

Wie die meis­ten Poli­tik­be­rei­che bie­tet das Jugend­straf­recht der aus­füh­ren­den Ver­wal­tung einen gewis­sen Ermes­sens­spiel­raum, inner­halb des­sen kon­kre­te, mit­un­ter schwie­ri­ge Poli­tik­pro­ble­me lösungs­ori­en­tiert bear­bei­tet wer­den. Angst vor mög­li­cher Empö­rung ver­grös­sert bei ver­ant­wort­li­chen poli­ti­schen Akteu­ren den Anreiz, die­se Ermes­sens­spiel­räu­me so zu beein­flus­sen, dass mög­lichst wenig Anlass zu zukünf­ti­ger nega­ti­ver Bericht­erstat­tung besteht.

Wie am Schick­sal des Zür­cher Jus­tiz­di­rek­tors unschwer abzu­le­sen ist, stellt sol­che Empö­rung eine oft unkon­trol­lier­ba­re Gefahr für Kar­rie­re und Ruf von Poli­ti­kern dar. Etwai­ge Reak­tio­nen von Medi­en oder poli­ti­schen Kräf­ten wer­den anti­zi­piert und bei der Mass­nah­men­wahl ver­stärkt berück­sich­tigt. Wird die­ses in der Lite­ra­tur als Bla­me Avo­id­ance Beha­vi­or beschrie­be­ne Ver­hal­ten (zu dt. etwa ‚Schuld­ver­mei­dungs­ver­hal­ten‘) von Poli­ti­kern ver­stärkt ange­wen­det, tre­ten ande­re Zie­le, wie bei­spiels­wei­se die best­mög­li­che Lösung eines poli­ti­schen Pro­blems, zwangs­läu­fig in den Hin­ter­grund. Im Fall «Car­los» ist die­ser Ver­drän­gungs­ef­fekt klar zu beob­ach­ten: zeit­wei­se stand nicht mehr die vom Jugend­straft­recht vor­ge­se­he­ne Behand­lung im Vor­der­grund, son­dern per­sön­li­che Zie­le von Poli­ti­kern waren handlungsleitend.

Konsequenzen für die Demokratie

Auch in einer direk­ten Demo­kra­tie wie der Schwei­ze­ri­schen lau­fen demo­kra­ti­sche Ent­schei­dungs­ver­fah­ren und Kon­flikt­lö­sungs­pro­zes­se durch das Par­la­ment. Im gege­be­nen Fall ent­schied sich der Natio­nal­rat trotz eines ent­spre­chen­den Vor­stos­ses der SVP gegen eine Ver­schär­fung des Jugend­straf­rechts. Die­se Ent­schei­dung gibt somit den poli­ti­schen Mehr­heits­wil­len wider. Kommt es nun trotz eines gegen­läu­fi­gen par­la­men­ta­ri­schen Mehr­heits­ent­scheids zu einer ver­schärf­ten Anwen­dung des Jugend­straf­rechts, bedeu­tet dies nichts ande­res, als dass eine poli­ti­sche Min­der­heit durch media­le Empö­rung und Skan­dal­be­wirt­schaf­tung eines Ein­zel­fal­les demo­kra­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zes­se umgeht und so der Mehr­heit ihren Wil­len aufzwingt.

Die Debat­te um die Pola­ri­sie­rung der Poli­tik in der Schweiz hinkt die­ser Ein­sicht noch hin­ter­her. Führt stei­gen­de Pola­ri­sie­rung zu einem Kli­ma, in dem die Anwen­dung einer Poli­tik demo­kra­ti­sche Ent­schei­de vor­weg­nimmt bzw. schlicht umgeht, reicht es nicht, das Augen­merk auf Wah­len und Abstim­mun­gen zu rich­ten, um die Kon­se­quen­zen von Pola­ri­sie­rung voll­um­fäng­lich erfas­sen zu kön­nen. Der demo­kra­ti­sche Scha­den wird auch ohne for­ma­le poli­ti­sche Ent­schei­de bereits in der Umset­zung bestehen­den Rechts angerichtet.


Die­ser Bei­trag bezieht sich auf:

  • Hin­ter­leit­ner, Mar­kus (2017). “Poli­cy Fail­u­res, Bla­me Games, and Chan­ges to Poli­cy Prac­ti­ce”, Jour­nal of Public Poli­cy, DOI: 10.1017/S0143814X16000283.

Bild: Ober­ge­richt Kan­ton Zürich, Wiki­me­dia Com­mons.

image_pdfimage_print