DSI: Nur wenige Politmuffel gingen erstmals an die Urne

Die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve schei­ter­te an der Urne klar – bei rekord­ho­her Stimm­be­tei­li­gung. So deut­lich wur­de dies nicht erwar­tet, wes­halb sich die Kom­men­ta­to­ren mit Super­la­ti­ven über die wach­ge­rüt­tel­te Zivil­ge­sell­schaft über­bo­ten. Doch war dem wirk­lich so? Mei­ne Ana­lye zeigt die Fak­ten: Nur zwi­schen zwei bis fünf Pro­zent der Stim­men­den gin­gen am 28. Febru­ar 2016 erst­mals an die Urne.

Die Stimm­be­tei­li­gung betrug am 28. Febru­ar 2016 63.1 Pro­zent. Das war die höchs­te Beteil­gung seit 1992, als über den EWR-Bei­tritt der Schweiz abge­stimmt wur­de. Die Stimm­be­tei­lung lag damit fast zwan­zig Pro­zent­punk­te höher als im lang­jäh­ri­gen Mit­tel.

Hat die breit ange­leg­te Kam­pa­gne gegen die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve, die vie­le ver­schie­de­ne Akteu­re ein­be­zog, tat­säch­lich vie­le Polit­muf­fel wach­ge­rüt­telt und ins­be­son­de­re eine gros­se Zahl jun­ger Men­schen an die Urne gebracht? Gar eine gan­ze Genera­ti­on poli­ti­siert, wie eupho­ri­sche Kom­men­ta­to­ren glaub­ten?

Die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve
Die Initia­ti­ve hat­te zum Ziel gehabt, dass noch ein­mal über die Aus­schaf­fung kri­mi­nel­ler Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der abge­stimmt wird. Doch sechs von zehn Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­gern schick­ten die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve der SVP bach­bab, sie kam nur auf 41.1 Pro­zent Zustimmung.
Wurden die Jungen im Vergleich zu anderen Vorlagen überdurchschnittlich mobilisiert?

Ja, die DSI-Abstim­mung wirk­te in der Tat elek­tri­sie­rend auf die Jun­gen, ins­be­son­de­re in der Deutsch­schweiz. Bei aller Eupho­rie darf dabei aber nicht ver­ges­sen wer­den, dass bei der Jugend­be­tei­li­gung auch viel Luft nach oben vor­han­den ist. Denn auch die über 60-Jäh­ri­gen nah­men über­durch­schnitt­lich häu­fig an der DSI-Abstim­mung teil. Weil die all­ge­mei­ne Betei­li­gung in die­ser Alters­grup­pe aber deut­lich über jener der jun­gen Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger liegt, fiel der Mobi­li­sie­rungs­ef­fekt der DSI hier weni­ger spek­ta­ku­lär aus. Im End­ef­fekt blieb die Jugend­be­tei­li­gung auch am 28. Febru­ar 2016 unter der­je­ni­gen der (meis­ten) ande­ren Altersgruppen.

Die Mobilisierungsanalyse im Detail

Die Ana­ly­se der tat­säch­li­chen Mobi­li­sie­rung konn­te für die Städ­te St.Gallen und Luzern sowie den Stadt­kan­ton Genf durch­ge­führt wer­den und zeigt deut­lich: Vor allem Jun­ge aus der Deutsch­schweiz betei­lig­ten sich über­durch­schnitt­lich stark an der DSI-Abstim­mung — auch und gera­de im Ver­gleich zu ande­ren Altersgruppen

(Luzern und Genf kön­nen per Klick auf die Legen­de ein­ge­blen­det werden)

Die Dif­fe­renz zur durch­schnitt­li­chen Betei­li­gung betrug bei den 18–35-jährigen St. Gal­le­rin­nen und St. Gal­ler zwan­zig bis dreis­sig Pro­zent­punk­te. In ein­zel­nen Jahr­gän­gen nah­men fast dop­pelt so vie­le Stimm­be­rech­tig­te teil wie sonst.

Das Betei­li­gungs­mus­ter in der Stadt Luzern gleicht dem­je­ni­gen der Stadt St. Gal­len auf­fal­lend stark. Zwar haben sich alle Alters­grup­pen stär­ker betei­ligt als sonst, aber bei den Jun­gen fiel die Mobi­li­sie­rung stär­ker aus als bei den älte­ren Stimmberechtigten.

In Genf sieht es etwas anders aus. All­ge­mein erreich­te die Stimm­be­tei­li­gung in Genf mit 55 Pro­zent kei­nen rekord­ho­hen Wert wie in gewis­sen Kan­to­nen der Deutsch­schweiz. Auch war die DSI für die jun­gen Gen­fe­rin­nen und Gen­fer kein der­ar­ti­ger Mobi­li­sie­rungs­mo­tor wie für die Deutsch­schwei­zer Jugend, die Betei­li­gungs­dif­fe­renz lag bei weni­ger als zehn Prozentpunkten.

Daten und Methoden
Die Stimm­re­gis­ter­da­ten der Stadt St. Gal­len und des Kan­tons Genf las­sen sich indi­vi­du­ell ver­knüp­fen, wodurch die kumu­la­ti­ve Par­ti­zi­pa­ti­ons­häu­fig­keit ermit­telt wer­den kann. Die Stadt St. Gal­len weist seit 2010 diver­se Anga­ben wie z.B. das Alter der an Wah­len und Abstim­mun­gen teil­neh­men­den Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Das ermög­licht es, die tat­säch­li­che — unver­zerr­te — Betei­li­gungs­häu­fig­keit der Stimm­be­rech­tig­ten nach Alter (und eini­gen ande­ren Merk­ma­len) zu rekon­stru­ie­ren. Die­se Regis­ter­da­ten haben gegen­über Umfra­ge­da­ten den Vor­teil, dass sie frei von Ver­zer­rungs­ef­fek­ten sind. Aber ihre Ergeb­nis­se sind nur bedingt gene­ra­li­sier­bar: Was für die Stadt St. Gal­len gilt, muss nicht zwin­gend für die gan­ze Schweiz zutref­fen. Indes, St. Gal­len scheint einer Ver­gleichs­stu­die gemäss (Arnold 2014) ein durch­aus brauch­ba­res Abbild der gesam­ten Deutsch­schweiz zu sein.
Haben die Jungen mehrheitlich gegen die DSI gestimmt?

Dafür gibt es kei­ne Hin­wei­se. Sowohl die VOX-Ana­ly­se wie auch die online durch­ge­führ­te Nach­be­fragaung von TA-Media zei­gen kei­ne grund­le­gen­den Unter­schie­de im Stimm­ver­hal­ten zwi­schen den Generationen.

War die DSI-Mobilisierung einmalig?

Es ist höchst frag­lich, ob am 26. Febru­ar 2016 tat­säch­lich Mas­sen von ansons­ten poli­tisch Apa­thi­schen an die Urne geströmt sind, um anschlies­send wie­der in die gewohn­te poli­ti­sche Lethar­gie zurück­zu­fal­len. Je nach Berech­nungs­wei­se (sie­he Info­box) gelangt man in der Stadt St. Gal­len zu einem Wert zwi­schen zwei und maxi­mal fünf Pro­zent an erst­ma­lig Teil­neh­men­den. Unter “Mas­sen” ver­ste­hen die meis­ten wohl ande­res als die­se ein­stel­li­gen Werte.

Aller­dings zeigt obi­ge Gra­fik, dass es sich bei der DSI-Abstim­mung trotz­dem um einen aus­ser­ge­wöhn­li­chen Urnen­gang han­del­te. Denn bei kei­ner ande­ren Abstim­mung war die Sog­wir­kung auf die nor­ma­ler­wei­se Polit-Absti­nen­ten so stark. Nur bei den Wah­len 2015 und der MEI-Abstim­mung wur­de mit knapp sechs Pro­zent bei den ein­ma­lig Teil­neh­men­den ein ver­gleich­bar hoher Wert ermittelt.

Der kleine, aber feine Unterschied

Das Fazit klingt des­halb vor­der­grün­dig wider­sprüch­lich: Obwohl die DSI-Neu­mo­bi­li­sie­rung in abso­lu­ten Zah­len gering aus­fiel, war sie trotz­dem unge­wöhn­lich hoch. Die­ser Wider­spruch resul­tiert dar­aus, dass vie­ler­orts nach wie vor die nach­weis­lich fal­sche Ansicht vor­herrscht, dass sich in der Schweiz nur etwa die Hälf­te der Stimm­be­rech­tig­ten an Urnen­gän­gen betei­ligt. Für die iso­lier­te Betrach­tung ein­zel­ner Vor­la­gen stimmt dies häu­fig auch. Bloss, es ist bei wei­tem nicht immer die glei­che Hälf­te, die sich beteiligt.

Die Aus­wer­tun­gen von Stimm­re­gis­ter­da­ten der Stadt St. Gal­len wie auch des Kan­tons Genf (Der­mont 2016; Scia­ri­ni u. a. 2016; Ser­dült 2013; Taw­fik, Scia­ri­ni und Hor­ber 2012) haben wie­der­holt gezeigt, dass sich eine erheb­li­che Zahl der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger selek­tiv an Abstim­mun­gen und Wah­len betei­ligt. Betrach­tet man nun die Betei­li­gung über meh­re­re Urnen­gän­ge hin­weg, so betei­li­gen sich zwi­schen 80 und 90 Pro­zent aller Stimm­be­rech­tig­ten zumin­dest ein­mal inner­halb eines Zeit­raums von vier oder fünf Jahren.

Es gibt dem­nach gar nicht so vie­le Polit­muf­fel wie ange­nom­men. Allei­ne die­ser Befund macht es dar­um von vorn­her­ein wenig wahr­schein­lich, dass an einem ein­zel­nen Urnen­gang plötz­lich Mas­sen von bis­lang Polit-Absti­nen­ten an die Urnen strö­men. Des­halb, so das Fazit die­ses Bei­tra­ges, ist die­ser Wert von zwi­schen zwei und fünf Pro­zent an DSI-Neu­mo­bi­li­sier­ten zwar klein, aber durch­aus fein.

Berech­nung der Teil­nah­me am 26. 2. 2016
Die Ana­ly­se des Ver­gleichs der Mobi­li­sie­rung wur­de wie­der­um mit den Daten des Stimm­re­gis­ters der Stadt St. Gal­len gemacht. Um die Urnen­gang­häu­fig­keit eines Bür­gers ermit­teln zu kön­nen, muss zunächst ein zeit­li­ches Inter­vall fest­ge­legt werden.

Im Fal­le der St. Gal­ler Daten drängt sich ein Unter­su­chungs­zeit­raum zwi­schen 2010 und 2016 auf. Um eine zwi­schen den ein­zel­nen Stimm­be­rech­tig­ten ver­gleich­ba­re Bete­ti­li­gungs­häu­fig­keit ermit­teln zu kön­nen, dür­fen nur die­je­ni­gen St. Gal­ler Stimm­be­rech­tig­ten berück­sich­tigt wer­den, die über die gesam­te Zeit­span­ne hin­weg auch im Stimm­re­gis­ter der Stadt St. Gal­len ein­ge­tra­gen waren (vgl. dazu Der­mont 2016 und Scia­ri­ni u. a. 2016, die genau die glei­che For­schungs­stra­te­gie anwen­den). Das wie­der­um bedeu­tet, dass alle am Stich­tag (28. Febru­ar 2016) 18–24-Jährigen von vorn­her­ein aus der Ana­ly­se aus­ge­schlos­sen wür­den, weil sie zum Zeit­punkt der ers­ten, hier berück­sich­tig­ten Abstim­mung (vom 7. März 2010) das Stimm­rechts­al­ter noch nicht erreicht hat­ten (vgl. dazu Scia­ri­ni et al. 2016: 81).

Hin­zu kommt, dass die «Alt­ein­ge­ses­se­nen» in der Grup­pe derer, die über die gan­zen sechs Jah­re im St. Gal­ler Stimm­re­gis­ter ent­hal­ten waren, natur­ge­mäss über­ver­tre­ten sind. Stu­die­ren­de hin­ge­gen, die ihren Wohn­sitz nach dem abge­schlos­se­nen Stu­di­um öfter wech­seln, sind unter den per­ma­nent Ansäs­si­gen ten­den­zi­ell unter­ver­tre­ten. Genau die­se bei­den Grup­pen – Jun­ge im Gene­rel­len und (jun­ge) Stu­die­ren­de im Spe­zi­el­len – wur­den von den Medi­en jedoch oft­mals als die Trä­ger die­ser neu­ar­ti­gen Mobi­li­sie­rung bezeich­net. Sie unbe­rück­sich­tigt zu las­sen, wäre gewiss sträflich.

Des­halb bin ich drei­stu­fig vor­ge­gan­gen: Zuerst wur­de der Anteil derer ermit­telt, der seit 2010 unun­ter­bro­chen im St. Gal­ler Stimm­re­gis­ter auf­ge­führt sind, aber ein­zig am 28. Febru­ar teil­nah­men. Die­ser Anteil betrug gera­de mal 1.6 Prozent.

In einem zwei­ten Schritt habe ich den Anteil derer ermit­telt, die am 28. Febru­ar zum ers­ten Mal (in der Stadt St. Gal­len) teil­nah­men – und zwar unge­ach­tet des­sen, ob sie zuvor über­haupt die Mög­lich­kei­ten hat­ten, in der Stadt St. Gal­len zu stim­men. Die­ser Anteil kann im Prin­zip als die obe­re Gren­ze (oder der Maxi­mal­wert) der Neu­mo­bi­li­sie­rung betrach­tet wer­den. Er betrug 5.1 Prozent.

In einem drit­ten und letz­ten Schritt wur­de die Par­ti­zi­pa­ti­ons­häu­fig­keit für die jeweils zehn letz­ten Urnen­gän­ge ermit­telt (sie­he Abbil­dung). Sie betrug bei der DSI knapp sie­ben Prozent.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag ist eine Kurz­fas­sung von Milic, Tho­mas (2016): Wie ein­ma­lig war die Mobi­li­sie­rung bei der Abstim­mung über die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve?, Working Paper.


Lite­ra­tur:

  • Arnold, Tobi­as (2014). »Stimm­re­gis­ter­da­ten der Stadt St. Gal­len als Ret­tung? Arbeits­be­richt zur Möglichkeit der Ver­wen­dung von Refe­renz­da­ten für eine Stimm­be­tei­li­gungs­ge­wich­tung der Vox-Daten nach Alters­grup­pen.« Semi­nar­ar­beit. Uni­ver­si­tät Bern.
  • Berin­sky, Adam J. und Gabri­el S. Lenz (2011). »Edu­ca­ti­on and Poli­ti­cal Par­ti­ci­pa­ti­on: Explo­ring the Cau­sal Link«. In: Poli­ti­cal Beha­vi­or 33, S. 357–373.
  • Der­mont, Clau (2016). »Taking Turns at the Bal­lot Box: Selec­ti­ve Par­ti­ci­pa­ti­on as a New Per­spec­ti­ve on Low Tur­nout«. In: Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 22 (2), S. 213–231.
  • Fran­k­lin, Mark N. (2002). »The Dyna­mics of Elec­to­ral Par­ti­ci­pa­ti­on.« In: Com­pa­ring Demo­cra- cies. Hrsg. von Lau­rence LeDuc, Richard Nie­mi und Pip­pa Nor­ris. Lon­don: SAGE, S. 148– 169.
  • Scia­ri­ni, Pas­cal u.a. (2016). »The Under­ex­plo­red Spe­ci­es: Selec­ti­ve Par­ti­ci­pa­ti­on in Direct Demo­cra­tic Votes«. In: Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review 22 (1), S. 75–94.
  • Serdült, Uwe (2013). »Par­ti­zi­pa­ti­on als Norm und Arte­fakt in der schwei­ze­ri­schen Abstim­mungs­de­mo­kra­tie – Ent­mys­ti­fi­zie­rung der durch­schnitt­li­chen Stimm­be­tei­li­gung anhand von Stimm­re­gis­ter­da­ten aus der Stadt St. Gal­len«. In: Direk­te Demo­kra­tie: Her­aus­for­de­run­gen zwi­schen Recht und Poli­tik, Fest­schrift für Andre­as Auer zum 65. Geburts­tag. Hrsg. von Andrea Good und Bet­ti­na Pla­ti­po­dis. Bern: Stämpf­li, S. 41–50.
  • Taw­fik, Amal, Pas­cal Scia­ri­ni und Eugène Hor­ber (2012). »Put­ting voter tur­nout in a lon­gi­tu- dinal and con­tex­tu­al per­spec­ti­ve: an ana­ly­sis of actu­al par­ti­ci­pa­ti­on data«. In: Inter­na­tio­nal Poli­ti­cal Sci­ence Review 3 (3), S. 352–371.
  • Ver­ba, Sid­ney, Kay L. Schloz­man und Nan­cy Burns (2005). »Fami­ly ties. Under­stan­ding the inter­ge­nera­tio­nal trans­mis­si­on of poli­ti­cal par­ti­ci­pa­ti­on«. In: The social logic of poli­tics. Hrsg. von Alan Zucker­man. Phil­adel­phia: Temp­le Uni­ver­si­ty Press, S. 95–17.

Gra­fi­ken:
Salim Brüggemann

Daten­quel­len:
Fach­stel­le für Sta­tis­tik St. Gal­len, Sta­tis­tik­da­ten Stimm­be­tei­lig­te Stadt St. Gallen
Stadt Luzern, Wahl- und Abstimmungstatistiken
Repu­bli­que et Can­ton de Geneve, Sta­tis­ti­ques Cantonales

Titel­bild:
Códi­ce Tuna Colec­tivo de Arte (CC-BY-NC-ND)

image_pdfimage_print