Bedenkliches Demokratiedefizit: Viertel der Schweizer Bevölkerung von Mitbestimmung ausgeschlossen

Die Schweiz ver­wei­gert fast einem Vier­tel ihrer erwach­se­nen Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner die poli­ti­schen Rech­te. Das damit ver­bun­de­ne Demo­kra­tie­de­fi­zit ist in der Schweiz deut­lich stär­ker aus­ge­prägt als in den aller­meis­ten ande­ren euro­päi­schen Demo­kra­tien. Das zeigt der Ver­gleich von zwan­zig EU-Staa­ten und der Schweiz anhand des Immi­grant Inclu­si­on Index (IMIX), der an der Uni­ver­si­tät Luzern ent­wi­ckelt wurde.

Fast ein Vier­tel aller erwach­se­nen Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner der Schweiz sind — wegen ihres Migra­ti­ons­hin­ter­grun­des — von der poli­ti­schen Mit­be­stim­mung weit­ge­hend aus­ge­schlos­sen. Dies wird in der Schwei­zer Öffent­lich­keit kaum dis­ku­tiert, obwohl Migra­ti­ons­the­men die poli­ti­sche Agen­da domi­nie­ren. Die­ser Aus­schluss von Migran­tin­nen und Migran­ten aus dem Stimm­volk ist kei­nes­wegs “nor­mal”, wie unse­re ver­glei­chen­de Ana­ly­se zeigt: Neun­zehn von zwan­zig euro­päi­sche Demo­kra­tien sind in die­ser Hin­sicht demo­kra­ti­scher als die Schweiz und inklu­die­ren Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten poli­tisch zum Teil deut­lich besser.

Demokratie: Government of the people, by the people, and for the people

Abra­ham Lincoln‘s Beschrei­bung der Demo­kra­tie als government of the peop­le, by the peop­le, and for the peop­le ist welt­be­rühmt. Vor allem die letz­ten Defi­ni­ti­ons­ele­men­te wer­den oft her­an­ge­zo­gen, um über demo­kra­ti­sche Legi­ti­mi­tät zu urteilen.

Der Euro­päi­schen Uni­on wird bei­spiels­wei­se ein Demo­kra­tie­de­fi­zit aus­ge­wie­sen, da die Poli­tik der EU nicht direkt durch die Bevöl­ke­rung Euro­pas bestimmt wer­den kann und weil zwi­schen den Vor­ga­ben der EU und den ver­schie­den­ar­ti­gen Inter­es­sen in der Bevöl­ke­rung Span­nungs­fel­der bestehen (für einen Über­blick sie­he Jen­sen 2009). Im Gegen­satz dazu geht man bei Natio­nal­staa­ten im All­ge­mei­nen und bei der Schweiz im Beson­de­ren von adäqua­ten demo­kra­ti­schen Struk­tu­ren und Mecha­nis­men aus.

Politische Rechte von Immigrantinnen und Immigranten im Vergleich

Wie aber ver­hält es sich mit dem ers­ten und grund­le­gends­ten Ele­ment von Lin­colns Beschrei­bung: Wer gehört zum regie­ren­den Volk dazu und wer nicht?

Wir haben mit­tels des von uns ent­wi­ckel­ten Immi­grant Inclu­si­on Index (IMIX) ver­gli­chen, wie zwan­zig EU-Staa­ten und die Schweiz ihre Wohn­be­völ­ke­rung mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund poli­tisch inklu­die­ren (sie­he Info­box). Das Mass an poli­ti­scher Inklu­si­on besagt, wie hoch der Anteil der ste­ti­gen Wohn­be­völ­ke­rung ist, der poli­tisch mit­be­stim­men kann.

Dabei zeigt sich, dass euro­päi­sche Natio­nal­staa­ten viel grös­se­re demo­kra­ti­sche Defi­zi­te auf­wei­sen als gemein­hin ange­nom­men. Die EU trägt aber mit ihren Vor­ga­ben dazu bei, dass ihre Mit­glieds­län­der die­ses Demo­kra­tie­de­fi­zit redu­zie­ren, wohin­ge­gen das EU-Nicht­mit­glieds­land Schweiz im inter­na­tio­na­len Ver­gleich beson­ders schlecht abschneidet.

Legen­de: Die Wer­te geben den Län­ders­core auf der IMIX Ska­la an (0–100), wel­cher dem geo­me­tri­schen Mit­tel von de jure und de fac­to Inklu­si­vi­tät ent­spricht; 20 eta­blier­te EU-Demo­kra­tien mit sta­bi­len Gren­zen und die Schweiz wur­den unter­sucht, die Daten sind von 2010 oder mög­lichst naheliegend.

Grosse Unterschiede zwischen den Staaten 

Die Demo­kra­tien Euro­pas sind von einem wirk­lich uni­ver­sel­len Wahl­recht noch weit ent­fernt. Es gibt zwi­schen den Län­dern aber deut­li­che Unter­schie­de: Skan­di­na­vi­sche Län­der sowie Bel­gi­en und die Nie­der­lan­de sind beson­ders inklu­siv. Sie för­dern nicht nur die Ein­bür­ge­rung ihrer Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten, son­dern las­sen einen Gross­teil ihrer aus­län­di­schen Mit­be­woh­ne­rin­nen und Mit­be­woh­ner auch dann mit­be­stim­men, wenn sie nicht ein­ge­bür­gert sind – wenn auch nur auf der kom­mu­na­len Ebene.

Die hohe Exklu­si­vi­tät der Schweiz lässt sich nicht nur damit erklä­ren, dass das Land vie­le Migran­tin­nen und Migran­ten anzieht, die­se im Rah­men der bila­te­ra­len Ver­trä­ge auch ein­wan­dern liess und somit de fac­to vie­le zu inklu­die­ren­de Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten hat. Auch bei der Ver­mes­sung ihrer de jure Inklu­si­vi­tät (sie­he Info­box) schnei­det die Schweiz sehr schlecht ab, was zeigt, dass sie Ein­wan­dern­de nicht oder nur sehr zöger­lich inklu­die­ren will.

Weshalb, wie und wann sollen Demokratien Immigranten inkludieren?

Seit den anti­ken Phi­lo­so­phen beschäf­tigt sich die nor­ma­ti­ve Demo­kra­tie­theo­rie damit, wie Demo­kra­tien sein sol­len. Heut­zu­ta­ge besteht, trotz vie­len ande­ren Gegen­sät­zen, weit­ge­hen­de Einig­keit in der Fra­ge, wie Demo­kra­tien mit der inter­na­tio­na­len Migra­ti­on umge­hen sol­len: Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten, die zu lang­fris­ti­gen lega­len Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern gewor­den sind, müs­sen über das Stimm- und Wahl­recht ver­fü­gen (Dahl 1989, 2000; Mil­ler, 2008; Rubio-Marin, 2000; Bar­ber, 2003 [1984]); Pet­tit 2012). Nur so kön­nen alle, die den Geset­zen des Staa­tes unter­wor­fen sind, auch an der For­mu­lie­rung die­ser Gesetz­ge­bung teilhaben.

Was genau heisst politisch inkludiert?

Dar­über, wie und wann poli­ti­sche Inklu­si­on genau statt­fin­den soll­te, gehen die Mei­nun­gen aller­dings aus­ein­an­der. Vie­le betrach­ten die Ein­bür­ge­rung als Königs­weg, weil sie den poli­ti­schen Sta­tus der Bür­ger­schaft mit sich bringt. Eini­ge for­dern dage­gen das Stimm­recht für Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der, da eine Ein­bür­ge­rung nicht zwin­gen­de Vor­aus­set­zung für poli­ti­sche Rech­te sein soll.

Wer vor allem vom ein­zel­nen Indi­vi­du­um aus­geht, ver­tritt eher die Mei­nung, dass Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten im neu­en Land sofort mit­be­stim­men kön­nen müs­sen, da alles ande­re einer Unter­drü­ckung ihrer Selbst­be­stim­mung gleich­kommt. Wer sich dage­gen stär­ker an der poli­ti­schen Gemein­schaft ori­en­tiert, argu­men­tiert, dass sich Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten zuerst zu einem gewis­sen Grad selbst in die Gesell­schaft inte­griert sollen.

 Der Immigrant Inclusion Index (IMIX)

Mit unse­rem IMIX (sie­he Info­box) bil­den wir den grösst­mög­li­chen gemein­sa­men Nen­ner die­ser unter­schied­li­chen Posi­tio­nen ab: Ers­tens berück­sich­ti­gen wir sowohl die Ein­bür­ge­rung als auch das Aus­län­der-Stimm­recht, gewich­ten jedoch die Ein­bür­ge­rung höher. Zwei­tens legen wir einen zeit­li­chen Mass­stab fest: Nach fünf Jah­ren Auf­ent­halts­zeit soll­te die poli­ti­sche Inklu­si­on erfol­gen, da man davon aus­ge­hen kann, dass Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten das poli­ti­sche Sys­tem nach die­ser Zeit hin­rei­chend gut ken­nen. Zudem ist es rela­tiv wahr­schein­lich, dass sie auch künf­tig im Land wohn­haft blei­ben (OECD, 2008).

Schweiz: Government of which people?

Die beson­ders star­ke Exklu­si­vi­tät der Schwei­zer Demo­kra­tie ist nichts Neu­es. Auch die Frau­en blie­ben in der Schweiz viel län­ger vom Stimm­volk aus­ge­schlos­sen als in ande­ren Län­dern. Dass sie das Stimm- und Wahl­recht 1971 doch noch erhiel­ten, kann auch damit begrün­det wer­den, dass sich die Schweiz den euro­päi­schen Men­schen­rechts­nor­men nicht län­ger ver­wei­gern wollte.

Im Gegen­satz zum Frau­en­stimm­recht fehlt aber in Bezug auf die Inklu­si­on der Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten nicht nur weit­ge­hend der inter­ne Druck, son­dern auch die recht­li­che Ein­bet­tung in eine inter­na­tio­na­le Ord­nung, wel­che die Durch­set­zung uni­ver­sel­ler Men­schen­rech­te unter­stützt: Wäh­rend die EU sicher­stellt, dass ihre Mit­glieds­län­der alle EU-Bür­ge­rin­nen und Bür­ger bei Kom­mu­nal­wah­len mit­be­stim­men las­sen, unter­liegt die Schweiz als Nicht-Mit­glied der EU die­ser Ver­pflich­tung nicht.

Bis­her haben nur weni­ge Kan­to­ne und Gemein­den von sich aus beschlos­sen, ihr deut­li­ches Demo­kra­tie­de­fi­zit durch ein Stimm­recht für Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der etwas abzu­mil­dern. (sie­he z.B. Bisaz 2016). Auf Bun­des­ebe­ne wur­de die Chan­ce dazu mit der aktu­el­len Revi­si­on des Bür­ger­rechts­ge­set­zes ver­tan: Es tritt 2018 in Kraft und schreibt für die Ein­bür­ge­rung eine zehn­jäh­ri­ge Auf­ent­halts­zeit fest.

Wie misst man Inklusivität?
Mit dem Immi­grant Inclu­si­on Index (IMIX) mes­sen wir die poli­ti­sche Inklu­si­vi­tät. Wir fokus­sie­ren uns auf die­sen Aspekt (und nicht zum Bei­spiel auf sozio­öko­no­mi­sche oder kul­tu­rel­le Inte­gra­ti­on von Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten), weil wir unter­su­chen wol­len, wer in einer Demo­kra­tie poli­tisch mit­be­stim­men kann und wer nicht.

Wir mes­sen poli­ti­sche Inklu­si­vi­tät fol­gen­der­mas­sen: Anhand der Gesetz­ge­bung eines Lan­des beur­tei­len wir zum einen, wie inklu­siv das Land de jure ist, das heisst, wie stark die Geset­ze dar­auf aus­ge­legt sind, der gesam­ten lang­fris­ti­gen Wohn­be­völ­ke­rung poli­ti­sche Rech­te zuzu­ge­ste­hen. Zum ande­ren berech­nen wir, wie vie­le der Immi­gran­tin­nen und Immi­gran­ten, die eigent­lich inklu­diert wer­den müss­ten, de fac­to inklu­diert sind, das heisst, tat­säch­lich über das Stimm- und Wahl­rech­te verfügen.

In bei­den Dimen­sio­nen betrach­ten wir sowohl die Ein­bür­ge­rung als auch das Aus­län­der­wahl­recht. Dar­aus resul­tie­ren fünf Kom­po­nen­ten: Das Ein­bür­ge­rungs­recht (Stär­ke des Rechts auf Ein­bür­ge­rung durch Geburt auf dem Ter­ri­to­ri­um, Ein­bür­ge­rungs­be­din­gun­gen und Tole­ranz der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft), das Wahl­recht für Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der (auf loka­ler und natio­na­ler Ebe­ne), die Bür­ger­schafts­quo­te (Anteil der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an der lang­fris­tig wohn­haf­ten Gesamt­be­völ­ke­rung), die Ein­bür­ge­rungs­quo­te (Anteil der Ein­ge­bür­ger­ten an der lang­fris­tig wohn­haf­ten aus­län­di­schen Bevöl­ke­rung) und die Aus­län­der­wahl­rechts­quo­te (Anteil der wahl­be­rech­tig­ten Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der an der lang­fris­tig wohn­haf­ten aus­län­di­schen Bevöl­ke­rung, gewich­tet nach loka­lem und natio­na­lem Wahlrecht).

Wir haben die­se Kom­po­nen­ten wie folgt aggre­giert: de jure Inklu­si­vi­tät ergibt sich aus dem arith­me­ti­schen Mit­tel des Ein­bür­ge­rungs­rechts (dop­pelt gewich­tet; ordi­na­le Ska­la von 0–100) und des Wahl­rechts für Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der (ordi­na­le Ska­la von 0–100); de fac­to Inklu­si­vi­tät ergibt sich aus dem arith­me­ti­schen Mit­tel der Bür­ger­schafts­quo­te (<90–100% line­ar trans­for­miert auf den Bereich 0–100), der Ein­bür­ge­rungs­quo­te (0–10%< line­ar trans­for­miert auf den Bereich 0–100) und die Aus­län­der­wahl­rechts­quo­te (0–100%).

Der Immi­grant Inclu­si­on Index (IMIX) ergibt sich durch das geo­me­tri­sche Mit­tel von de jure und de fac­to Inklu­si­vi­tät (Wur­zel aus dem Pro­dukt; bei­de Aspek­te wer­den damit als not­we­ni­ge Bedin­gun­gen für hohe Inklu­si­vi­tät behandelt).

Die Daten stam­men aus dem Jahr 2010 und aus angren­zen­den Jah­ren. In der Stich­pro­be unse­rer Stu­die sind zwan­zig eta­blier­te Demo­kra­tien in der EU (gemäss dem Blue­print-Sam­ple des Demo­kra­tie­ba­ro­me­ters) mit „genü­gend sta­bi­len ter­ri­to­ria­len Gren­zen“ (nicht gege­ben für Lett­land) plus die Schweiz enthalten.

Hin­weis: Am Mitt­woch, den 19. Okto­ber 2016 fin­det an der Uni­ver­si­tät Luzern eine Abend­ver­an­stal­tung zur The­ma­tik statt, an wel­cher mög­li­che Lösun­gen dis­ku­tiert wer­den: Die poli­ti­sche Inklu­si­on der Immi­gran­ten in der Schweiz: Defi­zi­te und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten. Der Ein­tritt ist frei, eine Anmel­dung nicht notwendig.

Die­ser Bei­trag bezieht sich auf Blat­ter, Joa­chim, Andrea C. Blätt­ler und Samu­el D. Schmid: The Immi­grant Inclu­si­on Index (IMIX), ein For­schungs­pro­jekt, das an der Uni­ver­si­tät Luzern durch­ge­führt wird.


Quel­len:

  • Bar­ber, B.R. (2003 [1984]). Strong Demo­cra­cy. Ber­ke­ley, CA: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press.
  • Bisaz, C. (2016). Das Aus­län­der­stimm­recht kann unde­mo­kra­tisch sein. DeFac­to, 15.03.2016.
  • Blat­ter, J., Schmid, S.D. Blätt­ler, A. C. (2016). “Demo­cra­tic Defi­ci­ts in Euro­pe: The Over­loo­ked Exclu­si­ve­ness of Nati­on-Sta­tes and the Posi­ti­ve Role of the Euro­pean Uni­on”, Jour­nal of Com­mon Mar­ket Stu­dies (Im Erscheinen).
  • Dahl, R.A. (1989). Demo­cra­cy and its Cri­tics. New Haven: Yale Uni­ver­si­ty Press.
  • Dahl, R.A. (2000). On Demo­cra­cy. New Haven: Yale Uni­ver­si­ty Press.
  • Jen­sen, T. (2009). “The Demo­cra­tic Defi­cit of the Euro­pean Uni­on”, Living Reviews in Demo­cra­cy, Vol. 1. (pp. 1–8).
  • Mil­ler, D. (2008). “Immi­grants, Nati­ons, and Citi­zenship”, Jour­nal of Poli­ti­cal Phi­lo­so­phy, Vol. 16, No. 4 (pp. 371–390).
  • OECD (2008). Inter­na­tio­nal Migra­ti­on Out­look, Part III – Return Migra­ti­on: A New Per­spec­ti­ve
  • Pet­tit, P. (2012). On the People’s Terms. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.
  • Rubio-Marin, R. (2000). Immi­gra­ti­on as a Demo­cra­tic Chal­len­ge. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.

Gra­fik: Salim Brüggemann

Bild: Flickr.

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