Volksinitiative durch ‘allgemeine Anregung’ ersetzen!

Ist die Eid­ge­nös­si­sche Volks­in­itia­ti­ve eine Erfolgs­ge­schich­te? Die­se Fra­ge stell­te Andre­as Gla­ser an einer Podi­ums­dis­kus­si­on zum 125. Geburts­tag der Volks­in­itia­ti­ve am Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA). Die rhe­to­ri­schen Klin­gen kreuz­ten vier erprob­te Wort­kämp­fer mit teil­wei­se unkon­ven­tio­nel­len Voten. 

Es liegt in der Natur der Sache: Die Volks­in­itia­ti­ve ist umstrit­ten. 1891 über­stimm­te eine Mehr­heit der Schwei­zer eine mehr als skep­ti­sche Min­der­heit. Heu­te, 125 Jah­re spä­ter, steht weni­ger das grund­sätz­li­che Exis­tenz­recht der Volks­in­itia­ti­ve in Fra­ge als ihre Aus­ge­stal­tung. Aus­lö­se­rin dafür sind unter ande­rem Kon­flik­te zwi­schen Volks­in­itia­ti­ven und inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen, was zur Fol­ge hat, dass eini­ge vom Volk ange­nom­me­nen Initia­ti­ven vom Par­la­ment kaum mehr umge­setzt wer­den können.

Oder das Par­la­ment sie nicht umset­zen will, wie Andre­as Kley, Staats­recht­ler an der Uni­ver­si­tät Zürich, kri­ti­siert. Das Par­la­ment kön­ne es gar nicht toll fin­den, wenn das Volk hineinrede. 

«Es ist nur logisch, dass das Par­la­ment ver­sucht, Volks­in­itia­ti­ven zu torpedieren.»

Andre­as Kley, Staatsrechtler

Dazu bedie­ne es sich ver­schie­de­ner Ver­zö­ge­rungs­tak­ti­ken, dar­un­ter die Schub­la­di­sie­rung oder die Erfin­dung von Ungül­tig­keits­grün­den. Unter dem Deck­män­tel­chen der „Schein­recht­lich­keit“ ver­su­che das Par­la­ment, poli­tisch unlieb­sa­me For­de­run­gen aus dem Weg zu räumen.

Es ist nicht nur der Vor­wurf der Schein­recht­lich­keit, der den Ber­ner Stän­de­rat Hans Stöck­li in Rage bringt.

«Initia­ti­ven sind dazu da, das Staats­we­sen wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und nicht, um es in die kon­ser­va­ti­ve Ecke zu drängen.»

Hans Stöck­li, Ständerat

So kon­tert Stän­de­rat Stöck­li, der Mit­glied der Staats­po­li­ti­schen Kom­mis­si­on ist und die Mobi­li­sie­rung der Stän­de­rä­te gegen die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve orches­triert hat. Das Volk habe ein Recht dar­auf, zu wis­sen, wel­che Kon­se­quen­zen eine Initia­ti­ve habe. „Will die SVP nun die bila­te­ra­len Ver­trä­ge mit der EU kip­pen oder nicht? Ich weiss es bis heu­te nicht.“

Parlament muss seinen Job besser machen

Wer den meteo­ro­lo­gisch mil­den, sonst aber hit­zi­gen Abend am ZDA mit­er­lebt hat, kann sich nun gut vor­stel­len, wie auf­ge­la­den die Stim­mung vor 125 Jah­ren gewe­sen sein muss. Die NZZ warn­te damals kurz vor der Abstim­mung davor, die Volks­in­itia­ti­ve „wür­de für län­ge­re Zeit Auf­re­gung und Unru­he“ brin­gen. Das tut sie in der Tat. Aber ist Ruhe in der Poli­tik eine Alternative? 

Für Tho­mas Min­der nicht. Für den Stän­de­rat und Urhe­ber der Abzo­cker­initia­ti­ve ist die Volks­in­itia­ti­ve eine „unein­ge­schränk­te Erfolgs­ge­schich­te, ein abso­lu­ter Erfolgs­fak­tor für die Sta­bi­li­tät des Lan­des“. Sie sei ein Kata­ly­sa­tor für über­fäl­li­ge Debat­ten, zum Bei­spiel über die Ver­ein­bar­keit von Volks­rech­ten mit dem Völ­ker­recht. In der stei­gen­den Anzahl von Initia­ti­ven sieht Min­der kein Pro­blem und meint lapidar:

«Wir müs­sen unse­ren Job in Bern bes­ser machen, dann gibt es auch weni­ger Initiativen.»

Tho­mas Min­der, Ständerat

Elite erreicht das Volk nicht

Für Mar­kus Mül­ler, Staats­recht­ler der Uni­ver­si­tät Bern, wäre damit das Pro­blem nicht gelöst. Ganz und gar nicht. Auch für ihn ist die Volks­in­itia­ti­ve „die Per­le der direk­ten Demo­kra­tie“. Aber: „Die Initia­ti­ve ist nicht als stra­te­gi­sches Instru­ment von ein­zel­nen Grup­pen zu miss­brau­chen.“ Aus­ser­dem sei­en die Stimm­bür­ger  mit den Abstim­mungs­vor­la­gen zuneh­mend über­for­dert und könn­ten die Kon­se­quen­zen nicht abschätzen.

Damit han­delt sich Mül­ler sofort den Vor­wurf ein, eli­tär zu sein, woge­gen er sich vehe­ment wehrt: Sein Votum rich­te sich nicht gegen das soge­nann­te ein­fa­che Stimm­volk. Auch Kol­le­gen aus der Fakul­tät ver­stün­den Vor­la­gen nicht, wie bei­spiels­wei­se die Initia­ti­ve Pro Ser­vice Public gezeigt habe.

Volk soll strategisches Ziel vorgeben

Mül­ler schlägt vor, die Volks­in­itia­ti­ve durch eine all­ge­mei­ne Anre­gung zu erset­zen. Das Volk sol­le die Rich­tung und das stra­te­gi­sche Ziel vor­ge­ben, das Par­la­ment dann eine ent­spre­chen­de Vor­la­ge aus­ar­bei­ten. Die­ser radi­ka­le Reform­vor­schlag geht vie­len Anwe­sen­den gegen den Strich. Das sei viel zu unver­bind­lich und im Grun­de eine Abschaf­fung der Volks­rech­te, bean­stan­det ein Gast aus dem Publikum. 

«War­um akzep­tie­ren wir, dass nur 48 % der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an die Urne gehen?»

Mar­kus Mül­ler, Staatsrechtler

Die tie­fe Betei­li­gung  ist gemäss Mül­ler eine Fol­ge der Über­for­de­rung des Volks. Ihm macht die zuneh­men­de Polit­ver­dros­sen­heit Sor­gen. Er plä­diert dafür, wich­ti­ge Trak­tan­den der poli­ti­schen Agen­da unab­hän­gig von Abstim­mungs­ter­mi­nen zu debat­tie­ren. Es gehe dar­um, wie­der kurz, klar und für alle ver­ständ­lich zu kom­mu­ni­zie­ren. “Neh­men wir uns in die­sem Punkt ein Bei­spiel am Papst.” 

Podi­um und Publi­kum debat­tie­ren 90 Minu­ten lang. Dann setzt Mode­ra­tor Andre­as Gla­ser, Ko-Direk­tor des ZDA und Rechts­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Zürich, einen vor­läu­fi­gen Schluss­punkt. In der Ver­län­ge­rung beim Apé­ro hört man hier und dort wei­te­re Reform­vor­schlä­ge. Wenn in 125 Jah­ren in Aar­au der 250. Jah­res­tag der Volks­in­itia­ti­ve gefei­ert wird, wird klar sein, wer gewon­nen hat, die Ver­tre­ter des Sta­tus Quo oder die Refor­mer. Aber die Unter­le­ge­nen kön­nen sich weh­ren. Schon am nächs­ten Tag. Das ist (auch) direk­te Demokratie. 


Titel­bild: Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA)

image_pdfimage_print