«Perfekte» Eltern als Produkt unserer Gesellschaft

War­um bekommt man heu­te Kin­der? Um dem Leben einen Sinn zu geben, um Lie­be zu schen­ken und sich selbst nicht mehr so wich­tig zu neh­men. So ant­wor­tet zumin­dest ein Gross­teil der Eltern oder sol­che, die es wer­den wol­len. Doch vie­le Eltern ste­hen unter Druck, möch­ten sel­ber per­fekt sein und per­fek­te Kin­der erzie­hen. Ich plä­die­re dafür, die Erzie­hung ent­spannt anzu­ge­hen und fern­ab von Rat­ge­bern auf die eige­nen Fähig­kei­ten zu vertrauen. 

Eltern­lie­be gilt als ein­ma­lig und unver­gleich­lich. Zwar ent­spricht sie nicht dem «coup de foud­re», der Lie­be auf den ers­ten Blick, den die Fran­zo­sen Blitz­schlag nen­nen. Viel­mehr führt sie zu einer Sym­bio­se über Jah­re hin­weg und gilt des­halb als grös­ser, inni­ger und zar­ter. Aber nicht nur die Lie­be, son­dern auch die Ver­ant­wor­tung gegen­über ihrem Kind schrei­ben heu­ti­ge Eltern gross: 62% der 20–39 jäh­ri­gen mei­nen, dass Eltern ihr eige­nes Leben hin­ter das­je­ni­ge des Kin­des stel­len soll­ten (Stamm et al. 2012). Die­se Auf­op­fe­rungs­pflicht ist international.

Einem sol­chen Ver­hal­ten liegt eine inne­re Logik zugrun­de. Heinz Bude (2011) nennt sie Bil­dungs­pa­nik, Eli­sa­beth Beck-Gerns­heim (1990) spricht vom Erzie­hungs­wahn. Das Ziel ist das per­fek­te Kind, und per­fek­te Kin­der brau­chen per­fek­te Eltern.

Das Mus­ter per­fek­ter Eltern ist in allen west­li­chen Staa­ten domi­nant. Anders als vie­le Publi­ka­tio­nen zu die­ser The­ma­tik spre­che ich die Eltern jedoch expli­zit als «nicht schul­dig». Denn sie ver­hal­ten sich eigent­lich genau­so, wie dies die Bil­dungs­po­li­tik seit Jah­ren ein­for­dert. Vor allem sind es die aus­ser­or­dent­li­chen Druck­kräf­te auf die Fami­lie, wel­che in einer mora­li­schen Panik­ma­che kul­mi­nie­ren und dazu füh­ren, dass die Eltern das Bes­te aus ihrem Kind her­aus­zu­ho­len versuchen.

Das normative Muster der Perfektion

Vor dreis­sig Jah­ren hat­te mei­ne Genera­ti­on die glei­chen Träu­me und Sehn­süch­te wie wer­den­de Eltern heu­te: Unse­re Kin­der soll­ten gesund, hübsch, klug, beliebt wer­den und spä­ter erfolg­reich sein.

Und doch gibt es gros­se Unter­schie­de: Wäh­rend unse­re dama­li­gen Sehn­süch­te von einem grund­le­gen­den Ver­trau­en in die Zukunft getra­gen wur­den, ist die­ses Ver­trau­en heu­te einem eben­so grund­le­gen­den Miss­trau­en gewi­chen (vgl. zusam­men­fas­send Bena­sayag & Schmit 2007). Als jun­ge Eltern waren wir eupho­risch und ver­ban­den unse­re Zukunfts­aus­sich­ten mit Fort­schritt. Wir waren über­zeugt, Krebs hei­len zu kön­nen, Krie­ge zu ver­hin­dern, Wohl­stand auf­zu­bau­en und durch die Bil­dungs­ex­pan­si­on sozia­le Gerech­tig­keit und «Bil­dung als Bür­ger­recht» (Dah­ren­dorf 1965) zu verankern.

All dies ist nicht so ein­ge­trof­fen wie erwar­tet. Heu­te müs­sen wir erken­nen, dass unse­re Fort­schritts­gläu­big­keit fast zum Para­dox gewor­den ist. Ver­heis­sung schlug in Bedro­hung, Opti­mis­mus in Pes­si­mis­mus um.

Neben den Gefah­ren des Kli­ma­wan­dels, der Selbst­ge­fähr­dung durch Atom­kraft, des teils pro­ble­ma­ti­schen wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritts (bei­spiels­wei­se in der Gen­tech­no­lo­gie oder der Fort­pflan­zungs­me­di­zin), der Migra­ti­ons­be­we­gun­gen oder neu­ar­ti­ger Krank­hei­ten (AIDS, Vogel­grip­pe) sind es die zuneh­men­de Glo­ba­li­sie­rung und Wett­be­werbs­ori­en­tie­rung, wel­che auch den Bil­dungs­be­reich stark betref­fen und damit die Erzie­hung und För­de­rung unse­res Nachwuchses.

Müt­ter sind in beson­de­rem Mas­se von die­sem Para­dox betrof­fen und kön­nen dem auch nicht ein­fach so ent­flie­hen (Bad­in­ter 1981, 2010): Zum einen macht sie die Gesell­schaft – unbe­se­hen des grös­se­ren Enga­ge­ments der Väter – für alles ver­ant­wort­lich, was mit Erzie­hung und Bil­der ihrer Kin­der zu tun hat. Zum ande­ren spricht sie ihnen – und auch den Vätern – mit Ver­weis auf die vie­len Fach­ex­per­ten die Kom­pe­tenz ab, Erzie­hungs­pro­ble­me eigen­stän­dig lösen zu können.

Als inkom­pe­tent hin­ge­stellt zu wer­den und gleich­zei­tig die allei­ni­ge Ver­ant­wor­tung für das Wohl­erge­hen und den Bil­dungs­er­folg der Kin­der tra­gen zu müs­sen, treibt Väter und Müt­ter des­halb in Ängs­te und Gewis­sens­bis­se, die sie mit einem Hang zur per­fek­ten Eltern­schaft zu bewäl­ti­gen ver­su­chen (Merk­le et al. 2008).

Bildungspanik nach PISA

Das nor­ma­ti­ve Mus­ter der per­fek­ten Eltern­schaft wird zusätz­lich von aktu­el­len Bedro­hungs­sze­na­ri­en genährt, u.a. von der zuneh­men­den Leis­tungs- und Wett­be­werbs­ori­en­tie­rung in den Schu­len im Zuge von PISA.

INFOBOX: PISA-Stu­di­en
Ursprüng­lich waren die PISA-Stu­di­en dazu ange­legt, die Qua­li­tät der Schu­len zu opti­mie­ren und sicher­zu­stel­len, dass alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler bestimm­te Leis­tungs­ni­veaus errei­chen. Ange­sichts der teil­wei­se ledig­lich mit­tel­mäs­si­gen oder gar schlech­ten Leis­tun­gen stand jedoch vor allem die ca. 15% bis 18% umfas­sen­de »Risi­ko­grup­pe« (Sta­nat & Schnei­der 2004) im Zen­trum. Die­se Risi­ko­grup­pe fand eine aus­ge­spro­chen gros­se media­le Beach­tung und wur­de auch in der Wis­sen­schaft aus­führ­lich dis­ku­tiert (Becker & Lau­ter­bach 2004). In die­sem Zusam­men­hang began­nen vie­le Bil­dungs­po­li­ti­ker unent­wegt vor einer «neu­en Bil­dungs­ka­ta­stro­phe» zu war­nen und die Angst vor dem Ver­lust der inter­na­tio­na­len Wett­be­werbs­fä­hig­keit und dem Abbau des gesell­schaft­li­chen Wohl­stands zu schü­ren (vgl. zusam­men­fas­send Nida-Rüme­lin & Zie­rer 2015).

Kri­sen­dia­gno­sen auf Grund der teil­wei­se schlech­ten Ergeb­nis­sen bei PISA führ­ten zur For­de­rung, alle Kin­der sei­en frü­her zu för­dern und bes­ser als bis­her auf die Schu­le vor­zu­be­rei­ten. Nur so könn­ten die Schü­ler­leis­tun­gen nach­hal­tig ver­bes­sert werden.

Des­halb wur­de die Früh­för­de­rung in vie­len Par­tei­pro­gram­men als neu­er Schwer­punkt defi­niert. Die Bedeu­tung von Bil­dung als ein­zi­gem Roh­stoff wie auch die Wich­tig­keit einer guten Aus­bil­dung wur­de für alle zu tra­gen­den Leit­ideen erklärt. Quer durch die poli­ti­schen Par­tei­en hin­durch war die Bot­schaft erstaun­lich ein­hel­lig: Eltern soll­ten in die Erzie­hung ihrer Kin­der inves­tie­ren, damit die bil­dungs­po­li­ti­schen Anstren­gun­gen Früch­te tragen.

Die Mes­sa­ge lau­te­te: Nur wenn sich Eltern stär­ker für die Schu­le inter­es­sie­ren und sich ihrer zen­tra­len Rol­le bewusst wer­den, kön­ne die schu­li­sche För­de­rung grei­fen. In der Fol­ge wur­de die Eltern­ar­beit inten­si­viert und in den Schu­len ver­bind­lich fest­ge­legt, die indi­vi­du­el­le För­de­rung der Kin­der durch aus­ge­klü­gel­te Dia­gnos­tik­in­stru­men­te ver­bes­sert, frü­he Sprach­för­de­rung in vie­len Pro­gram­men eta­bliert, die vor­zei­ti­ge Ein­schu­lung ermög­licht und die Aus­bil­dung und Ein­stel­lung heil­päd­ago­gi­scher Zusatz­lehr­kräf­te vorangetrieben.

Eines der unbe­ab­sich­tig­ten Neben­pro­duk­te war jedoch, dass eine regel­rech­te Bil­dungs­wer­bung in Gang kam und die Fami­lie als «Bil­dungs­ort» (Büch­ner & Bra­cke 2006) defi­niert wur­de. Dies wur­de vor allem von bil­dungs­be­flis­se­nen Eltern als Vor­ga­be ver­stan­den, auf die ent­spre­chend zu reagie­ren ist. Dem­entspre­chend ver­ste­hen vie­le Fami­li­en die inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit den Bil­dungs- und Lauf­bahn­fra­gen der Spröss­lin­ge und die Siche­rung des Schul­erfolgs inzwi­schen als nor­ma­le Erziehungsaufgabe.

Moralische Panikmache

Nicht nur das ulti­ma­ti­ve Gebot zur (frü­hen) För­de­rung beein­flusst Eltern im Umgang mit ihrem Nach­wuchs aus­ge­spro­chen stark, son­dern auch die gesell­schaft­li­che Angst­kul­tur (Fure­di 2008, Stamm & Edel­mann 2013). Damit ist die ver­brei­te­te Sor­ge gemeint, dass mit dem Nach­wuchs mit Sicher­heit etwas schief­geht, wenn man nicht per­ma­nent alles Mög­li­che für ihn tut.

Dabei ori­en­tie­ren sich Eltern immer an der all­ge­mein gül­ti­gen Kul­tur und ihren Nor­men. Wenn man in einer zukunfts­un­si­che­ren Gesell­schaft lebt und davon aus­ge­hen muss, den Kin­dern viel­leicht nicht mehr das bie­ten zu kön­nen, von dem man selbst ein­mal pro­fi­tiert hat, dann erwächst aus dem gesell­schaft­li­chen Druck unwei­ger­lich das ver­pflich­ten­de Gefühl, auf Bie­gen und Bre­chen das Best­mög­li­che aus dem Kind her­aus­ho­len zu müs­sen (Syl­va et al. 2007).

Die­ses Gebot der opti­ma­len För­de­rung ist zu einer mora­li­schen Panik­ma­che ver­kom­men (Goo­de & Ben-Yehu­da 1994, Thomp­son 2008). Sie geht ein­her mit der empi­risch viel­fach nach­zu­wei­sen­den Tat­sa­che, dass Eltern ihre Anstren­gun­gen auf das Dik­tat der Mach­bar­keit und die Bot­schaft «Jeder kann alles schaf­fen, wenn er nur will!» aus­rich­ten (z.B. Merk­le et al. 2008). Des­halb getrau­en sie sich kaum mehr, ein­fach so mit dem Kind zu spie­len, zu schmu­sen oder ohne Ambi­tio­nen mit ihm in den Wald zu gehen. Anstatt zu ent­de­cken, über wel­che, viel­leicht uner­war­te­ten und / oder unüb­li­chen Bega­bun­gen und Nei­gun­gen das Kind ver­fügt, ver­su­chen sie eher, sich dem Main­stream anzu­pas­sen. Die­ser schreibt vor, wel­ches der bes­te Früh­för­der­kurs, die bes­te Schu­le oder das bes­te Sport- oder Frei­zeit­pro­gramm ist.

Sol­che Mach­bar­keits­vor­stel­lun­gen ver­schlies­sen sich vie­len päd­ago­gi­schen Erkennt­nis­sen, bei­spiels­wei­se den­je­ni­gen von Janusz Kor­c­zak (2002) oder Lew Wygots­ky (1987).

So stellt Kor­c­zak die Ein­ma­lig­keit des Kin­des in den Mit­tel­punkt von Erzie­hung und För­de­rung und unter­streicht dies mit dem «Recht des Kin­des auf den heu­ti­gen Tag». Damit meint er, dass das Kind im Hier und Jetzt ange­nom­men wer­den und Eltern alles dar­an set­zen sol­len, es vom ers­ten Tag an, mit Rück­sicht auf sei­ne Indi­vi­dua­li­tät, so zu bil­den und zu erzie­hen, dass es sich sei­nem Poten­zi­al und Tem­pe­ra­ment ent­spre­chend ent­wi­ckeln kann. Das heisst natür­lich nicht, dass sie es nicht her­aus­for­dern sol­len, aber sie müs­sen spü­ren, wie weit sie gehen dürfen.

Wygots­ky hat die­ses «Wie» mit dem Begriff «Zone der nächs­ten Ent­wick­lung» genau­er erläu­tert. Gemeint ist damit, dass Eltern ihrem Kind eine Umge­bung zur Ver­fü­gung stel­len soll­ten, die sei­nen Vor­aus­set­zun­gen ange­mes­sen ist und zugleich sei­ne Ent­wick­lung för­dert. Er unter­schei­det dabei zwei Ent­wick­lungs­ni­veaus des Kindes.

Das ers­te Niveau ist das der aktu­el­len Ent­wick­lung. Auf die­sem Niveau ist es in der Lage, eine Auf­ga­be selbst­stän­dig zu lösen. Das zwei­te ist das poten­zi­el­le Ent­wick­lungs­ni­veau, wel­ches das Kind unter Mit­hil­fe der Eltern oder einer ande­ren Per­son errei­chen kann. Die Dif­fe­renz zwi­schen die­sen bei­den Niveaus macht die Zone der nächs­ten Ent­wick­lung aus. Sie ver­deut­licht, was das Kind mit Hil­fe von Vater oder Mut­ter oder einer ande­ren Bezugs­per­son zu schaf­fen oder zu ver­ste­hen ver­mag. Was es heu­te mit sei­ner oder ihrer Hil­fe voll­bringt, wird es mor­gen selbst­stän­dig tun können.

Die Droge Erziehungsratgeber

Wenn Eltern unter kon­ti­nu­ier­li­chem Druck ste­hen, eine «ver­ant­wor­te­te Eltern­schaft» zu prak­ti­zie­ren (Kränzl-Nagl & Mie­ren­dorff 2007), erfor­dert dies von ihnen auch eine Grund­ba­sis päd­ago­gi­schen Wis­sens respek­ti­ve ein hohes Enga­ge­ment in grund­le­gen­der Infor­ma­ti­ons­ar­beit. Sol­che Infor­ma­ti­on fin­den sie sowohl in Erzie­hungs­rat­ge­bern als auch in online-Foren.

Man­che Eltern ver­schlin­gen die neu­es­ten Rat­ge­ber regel­recht, häu­fig einen nach dem ande­ren. Von der Angst getrie­ben, etwas falsch zu machen, wer­den sol­che Rat­ge­ber aber eher zu einer Art «Schuld­ge­ber» und zudem zu einer Ein­stiegs­dro­ge (Fuh­r­er 2007). Einer reicht nicht. Es braucht einen zwei­ten und dann einen dritten.

Dabei spie­len Erzie­hungs­rat­ge­ber eine aus­ge­spro­chen pro­ble­ma­ti­sche Rol­le. Mit ihrem vor­wie­gend mah­nen­den oder sor­gen­den Ton­fall, oft geschmückt mit dem Ver­weis «von päd­ago­gi­schen Fach­leu­ten emp­foh­len», «päd­ago­gisch erprobt» oder «wis­sen­schaft­lich getes­tet» ver­mit­teln sie den Lesern die Bot­schaft «Wir ver­ste­hen von Erzie­hung viel mehr als Sie!».

Damit rau­ben sie Vätern und Müt­tern das Ver­trau­en in die eige­nen Fähig­kei­ten, das Kind ange­mes­sen erzie­hen zu kön­nen. Drü­ber hin­aus haben vie­le Rat­ge­ber einen grund­le­gend the­ra­peu­ti­schen Unter­ton, den sie mit Begrif­fen aus Psy­cho­the­ra­pie und Medi­zin anrei­chern und so ein Kata­stro­phen­sze­na­rio her­auf­be­schwö­ren, wel­ches die gesell­schaft­li­che Panik­ma­che noch ver­stärkt. Sol­che Töne trei­ben Eltern in die Defen­si­ve. Des­halb wird es für sie fast zu einer nor­ma­len und unhin­ter­frag­ten Hand­lung, The­ra­peu­ten oder Exper­ten aufzusuchen.

Aus der Perfektionsspirale herauskommen

Wenn schon Sie­ben­jäh­ri­ge auf dem Schul­hof mob­ben, hat die Schu­le ver­sagt, auch wenn Lehr­kräf­te das nicht gern hören. Und wenn lern­schwa­che Kin­der in unse­rem Bil­dungs­sys­tem nach unten durch­ge­reicht wer­den, um am Ende als Ver­sa­ger dazu­ste­hen, liegt es min­des­tens genau­so an ihm wie am Elternhaus.

«Eltern allein haft­bar zu machen für alles, was mit ihren Kin­dern schief läuft, ist grund­sätz­lich falsch.»

Mar­grit Stamm

Väter und Müt­ter sind nicht per se die Ver­ur­sa­cher kind­li­cher Ver­hal­tens­stö­run­gen. Das ist zwar eine muti­ge Aus­sa­ge, aber den­noch eine empi­risch begründ­ba­re. Zwar gibt es kin­der­psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Lite­ra­tur, die mit­tels einer ein­fa­chen Ursa­che-Wir­kungs­ket­te die Ver­feh­lun­gen der Eltern nach­wei­sen will.

Zahl­reich sind bei­spiels­wei­se die Hin­wei­se, wonach Väter und Müt­ter die Archi­tek­ten ihres Nach­wuch­ses sei­en (Hüt­her & Hau­ser 2013). Die­se Argu­men­ta­ti­on ver­führt jedoch dazu, Kin­der ein­sei­tig als «Opfer» und Eltern als «Täter» dar­zu­stel­len. Die For­schung rela­ti­viert sol­che kau­sa­len Ver­sim­pli­fi­zie­run­gen. Kin­der sind längst nicht nur Opfer, sie sind viel wider­stands­fä­hi­ger als wir den­ken, und sie kön­nen auch schmerz­haf­te Erleb­nis­se weg­ste­cken (Wer­ner & Smith 1982).

Aber die Bera­ter­in­dus­trie, wel­che jedes Ent­wick­lungs­merk­mal jen­seits der Norm als patho­lo­gisch defi­niert und sofort zur Stel­le ist, macht die Erzie­hung für Eltern viel schwie­ri­ger als je zuvor. Weil Erzie­hung heu­te als Risi­ko­ver­mei­dung gilt, wird auch von poli­ti­scher Sei­te der Druck auf Eltern ver­stärkt, bei Fra­gen rund um die Erzie­hung in jedem Fall fach­män­ni­sche Bera­tung beizuziehen.

«Not tut des­halb eine eltern­freund­li­che­re Gesell­schaft, die Väter und Müt­ter grund­sätz­lich als fähi­ge und kom­pe­ten­te Erzie­her und nicht als Hil­fe bedür­fen­de Ver­sa­ger versteht.»

Mar­grit Stamm

Not tut aber auch, dass sich Eltern eman­zi­pie­ren und Druck­ver­su­chen wider­set­zen. Der Weg, um aus einer sol­chen Per­fek­ti­ons­spi­ra­le her­aus­zu­kom­men und sich dem Kli­ma der Ver­un­si­che­rung zu ent­zie­hen, beginnt beim kri­ti­schen Blick in den Spie­gel. Müt­ter und Väter müs­sen zunächst ein­mal ver­ste­hen ler­nen, war­um sie sich so und nicht anders ver­hal­ten. Es geht nicht um Rezep­te zur Besei­ti­gung von Stö­run­gen und Schwie­rig­kei­ten, son­dern um die Moti­va­ti­on und die Kraft, mit sich selbst ins Gericht zu gehen und ins Rei­ne zu kom­men. Müt­ter und Väter soll­ten sich vom Ide­al per­fek­ter Eltern ver­ab­schie­den. «Hin­rei­chend gute» Eltern zu sein (oder zu wer­den) genügt vollends.

Die­ser Bei­trag bezieht sich auf : Stamm, Mar­grit (2016). Lasst die Kin­der los. Wes­halb ent­spann­te Erzie­hung lebens­tüch­tig macht. Mün­chen: Piper.


Lite­ra­tur

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Titel­bild: Piper

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