Der Bosnische Frühling: Wie die Zivilgesellschaft den Demokratisierungsprozess beeinflussen kann

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Die Demo­kra­ti­sie­rung ver­läuft in Bos­ni­en-Her­ze­go­vina nicht grad­li­nig. Das mul­tie­thi­sche Land sucht sei­nen Weg in Rich­tung demo­kra­ti­scher Nor­ma­li­tät. Auch zwan­zig Jah­re nach Day­ton scheint die­ser noch unklar und lang zu sein. Ple­nen und Kon­fe­ren­zen, wie bei­spiels­wei­se die der Offe­nen Uni­ver­si­tät Sara­je­vo schei­nen ein Licht­blick zu sein.

Das Jahr 2014 war tur­bu­lent für Bos­ni­en-Her­ze­go­vina: Das Land litt unter den schlimms­ten Über­schwem­mun­gen seit mehr als hun­dert Jah­ren, was die ohne­hin ange­schla­ge­ne Wirt­schaft und Infra­struk­tur zusätz­lich schwäch­te. Gleich­zei­tig lief die Frist für die Umset­zung eines neu­en Geset­zes bezüg­lich der Erstel­lung der ID-Num­mern von Bos­ni­schen Staats­bür­gern aus. Es konn­ten kei­ne Päs­se mehr aus­ge­stellt wer­den. Und dann wur­den in der Indus­trie­stadt Tuz­la gleich­zei­tig meh­re­re Fir­men pri­va­ti­siert und Tau­sen­de von Arbei­tern auf die Stras­se gestellt. 

Bosnien

Abbil­dung 1: Bos­ni­en und Her­ze­go­vina mit den Gren­zen der Entitäten

Die­se Ereig­nis­se führ­ten in die­sem und im letz­ten Jahr zu den gröss­ten Pro­tes­ten in Bos­ni­en-Her­ze­go­vina seit 1996. Vor allem Arbei­ter, Stu­den­ten und Rent­ner demons­trier­ten tage­lang. Schnell war von einem Bos­ni­schen Früh­ling die Rede, vom Erstar­ken der Demo­kra­tie. Doch kann der Druck von der Stras­se die demo­kra­ti­sche Ent­wick­lung eines Land über­haupt beeinflussen? 

Der Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Demokratie

Phi­lo­so­phen und Wis­sen­schaft­ler attes­tie­ren zivil­ge­sell­schaft­li­chen Bewe­gun­gen eine tra­gen­de Rol­le in Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zes­sen (Rue­sche­mey­er et al. 1992). Häu­fig unter­stützt die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft in den Län­dern, die sich von einer Dik­ta­tur zu einer Demo­kra­tie hin ent­wi­ckeln, nicht­staat­li­che Orga­ni­sa­tio­nen (NGOs). Dies des­halb, weil die Erfah­rung zeigt, dass NGOs oder ande­re zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen (sie­he Info­box 1) die Eta­blie­rung der Demo­kra­tie posi­tiv beein­flus­sen können.

Bei­spiels­wei­se haben Orga­ni­sa­tio­nen wie OTPOR (Wider­stand) und ande­re NGOs in Ser­bi­en einen wich­ti­gen Bei­trag zur Mobi­li­sie­rung der Wäh­ler bei den Wah­len im Jahr 2000 geleis­tet — die Wahl­be­tei­li­gung im Jah­re 2000 betrug 71 Pro­zent, ver­gli­chen mit 48 Pro­zent im Jah­re 1997. Da Miloše­vić sei­ne Nie­der­la­ge bei den Wah­len nicht akzep­tier­te, kam es dar­auf zu Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen im gan­zen Land, was letz­ten Endes das Ende der auto­ri­tä­ren Herr­schaft Miloše­vić’s bedeutete.

Bosnien

Abbil­dung 2: Die geball­te Faust, das Sym­bol von OTPOR, an einem Gebäu­de der Uni­ver­si­tät von Novi Sad (Ser­bi­en), 2001.

Doch wor­in liegt das Poten­zi­al zivil­ge­sell­schaft­li­cher Bewe­gun­gen in einem Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zess? Einer­seits kann die Zivil­ge­sell­schaft, neben offi­zi­el­len poli­ti­schen Par­tei­en, ein wich­ti­ger Kanal für die Arti­ku­la­ti­on demo­kra­ti­scher For­de­run­gen sein. Ande­rer­seits erfüllt die Zivil­ge­sell­schaft als Reprä­sen­tan­tin gesell­schaft­li­cher Inter­es­sen eine ergän­zen­de Funk­ti­on und stellt eine wei­te­re Mög­lich­keit zur Ein­bin­dung plu­ra­ler Inter­es­sen in das poli­ti­sche Ent­schei­dungs­sys­tem dar. Ihr Ein­fluss hängt aber letzt­end­lich vom bestehen­den poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Sys­tem ab.

Kampf der Klassen um Herrschaft

Die Demo­kra­ti­sie­rungs­ge­schich­te der west­eu­ro­päi­schen Län­der war immer schon der Kampf ver­schie­de­ner Klas­sen um Herr­schaft. Die Unter- und auch Mit­tel­schicht hat­ten lan­ge Zeit kei­ne poli­ti­schen Rech­te. In den meis­ten euro­päi­schen Län­dern galt bis zum Ers­ten Welt­krieg nur ein begrenz­tes Wahl­recht, bei­spiels­wei­se durf­ten nur wohl­ha­ben­de Män­ner an Wah­len teil­neh­men. Auch waren die Frau­en vie­ler­orts bis spät ins 20. Jahr­hun­dert von der poli­ti­schen Mit­spra­che aus­ge­schlos­sen. Die Schweiz führ­te das Frau­en­stimm­recht auf natio­na­ler Ebe­ne als eines der letz­ten euro­päi­schen Län­der eben­falls erst 1971 ein.

Mit der fort­schrei­ten­den Indus­tria­li­sie­rung und Urba­ni­sie­rung ent­wi­ckel­te sich gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts eine immer grös­ser wer­den­de Arbei­ter­klas­se. Die Arbei­ter­klas­sen began­nen sich kol­lek­tiv zu orga­ni­sie­ren und Druck auf die Herr­schen­den aus­zu­üben, indem sie Gewerk­schaf­ten und/oder neue Par­tei­en grün­de­ten. Sol­che zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten waren und sind auch heu­te noch ein wich­ti­ger Fak­tor für die Demo­kra­ti­sie­rung (sie­he Rue­sche­mey­er et al. 1992). 

INFOBOX 1: Zivilgesellschaft
Unter Zivil­ge­sell­schaft wer­den alle sozia­len Insti­tu­tio­nen und (infor­mel­len und for­mel­len) Orga­ni­sa­tio­nen ver­stan­den, wel­che vom Staat unab­hän­gig sind. Die­se brei­te Defi­ni­ti­on umfasst sowohl den infor­mel­len Spiel­kar­ten­ver­ein oder Kir­chen­grup­pen, als auch for­mel­le nicht-staat­li­che Orga­ni­sa­tio­nen (NGOs), wie Gewerk­schaf­ten oder auch poli­ti­sche Parteien.
Das Erbe Jugoslawiens

Durch die jahr­hun­der­te­lan­ge Fremd­herr­schaft in Bos­ni­en setz­te die Indus­tria­li­sie­rung und Moder­ni­sie­rung im Ver­gleich mit ande­ren west­eu­ro­päi­schen Län­dern spät ein: 1948 waren immer noch drei Vier­tel der Bos­ni­schen Bevöl­ke­rung Bau­ern. In der Schweiz lag der Anteil der Erwerbs­tä­ti­gen in der Land­wirt­schaft in die­ser Zeit zwi­schen einem Vier­tel und einem Drit­tel. Zudem war unter dem sozia­lis­ti­schen Ein­par­tei­en­sys­tem jeg­li­che zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on oder Arbei­ter­be­we­gung, die nicht auf der staats­po­li­ti­schen Linie lag, ver­bo­ten (sie­he Info­box 2).

Der industrielle Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg erleb­te Jugo­sla­wi­en einen indus­tri­el­len Auf­schwung, in Bos­ni­en ent­stan­den neue Indus­trie­zen­tren. Die Arbei­ter­klas­se wuchs dadurch stark an, doch es gab den­noch kei­ne über die Gren­zen der Teil­re­pu­bli­ken hin­aus orga­ni­sier­te Arbei­ter­be­we­gung. Einer der Grün­de dafür liegt in der spe­zi­fi­schen Wirt­schafts­form Jugo­sla­wi­ens, wel­ches ein kol­lek­ti­ves Arbei­ter­be­wusst­sein erschwer­te: Die soge­nann­te Arbeits­selbst­ver­wal­tung.

Die­se Arbeits­selbst­ver­wal­tung war durch eine gewis­se Auto­no­mie der Fir­men und Fabri­ken gekenn­zeich­net, indem die Beschäf­tig­ten bei­spiels­wei­se den Direk­tor wäh­len und über ihre Löh­ne dis­ku­tie­ren konn­ten. Die­se Auto­no­mie führ­te zu einem extrem frag­men­tier­ten Arbeits­markt und zu unter­schied­li­chen Löh­nen inner­halb glei­cher Bran­chen. Unter sol­chen Bedin­gun­gen konn­te sich kein kol­lek­ti­ves Bewusst­sein sei­tens der Arbeit­neh­mer ent­wi­ckeln. Die Auto­no­mie der Betrie­be und Fabri­ken  schien auf den ers­ten Blick ein posi­ti­ves Wirt­schafts­mo­dell zu sein. Sie führ­te jedoch dazu, dass die Bedin­gun­gen des einen Betrie­bes kaum je auch an einem ande­ren Ort galten. 

INFOBOX 2: Die Geschich­te Bos­ni­ens im Schnelldurchlauf
Im Lau­fe der Geschich­te war Bos­ni­en Teil ver­schie­de­ner Impe­ri­en wie des Osma­ni­schen und Öster­reich-Unga­ri­sches Reichs, wes­we­gen es heu­te eine gros­se kul­tu­rel­le und reli­giö­se Viel­falt auf­weist. Das Land ist seit Jahr­hun­der­ten Hei­mat für Katho­li­ken, Mus­li­me, Ortho­do­xe und Juden. 

Mit dem Zer­fall des sozia­lis­ti­schen Jugo­sla­wi­ens 1991 erleb­te das Land einen fata­len Bür­ger­krieg, wel­cher erst 1995 durch den Frie­dens­ver­trag in Day­ton been­det wurde.

Dayton

Abbil­dung 3: Der ser­bi­sche Prä­si­dent Slo­bo­dan Milo­se­vic, der bos­ni­sche Prä­si­dent Ali­ja Izet­be­go­vic und der kroa­ti­sche Prä­si­dent Fran­jo Tudj­man unter­zeich­nen den Frie­dens­ver­trag von Day­ton in Paris, 14. Dezem­ber 1995.

Nach dem Ende des Bür­ger­krie­ges wur­de ein kom­pli­zier­tes poli­ti­sches Sys­tem mit zwei auto­no­men Enti­tä­ten geschaf­fen: der Föde­ra­ti­on Bos­ni­en und Her­ze­go­vina und der Repu­bli­ka Srps­ka (sie­he Abbil­dung 1). Gleich­zei­tig rich­te­te die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft das Büro des Hohen Reprä­sen­tan­ten ein, wel­cher die Umset­zung des Frie­dens­ver­trags über­wa­chen soll und de fac­to die Exe­ku­tiv­macht im Land hat.

Zusätz­lich wer­den alle poli­ti­schen Ämter nach einem eth­nisch-reli­giö­sen Schlüs­sel ver­ge­ben. Eine über­grei­fen­de, reli­giö­se Iden­ti­tät stellt für die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger Bos­ni­ens nach wie vor eine gros­se Her­aus­for­de­rung dar (Andje­lic 2003). Die letz­te offi­zi­el­le Volks­zäh­lung im Land ergab 1991 einen Anteil von ca. 44 % mus­li­mi­schen, 31 % ser­bisch-ortho­do­xe und 17 % kroa­tisch-katho­li­sche Bos­nie­rin­nen und Bos­ni­er. 2013 wur­de eine neue Zäh­lung durch­ge­führt, doch die Ergeb­nis­se wur­den bis heu­te nicht ver­öf­fent­licht. (Sta­tis­ti­sche Büro Bos­ni­ens: Agen­ci­ja za Sta­tis­ti­ku, BiH)

Dayton und seine Folgen für die Zivilgesellschaft

Seit dem Ende des Bür­ger­kriegs 1995 beherr­schen aus­schliess­lich eth­nisch-natio­na­lis­ti­sche Par­tei­en das poli­ti­sche Sys­tem Bos­ni­ens. Auch die Par­tei­en, wel­che sich auf eine natio­na­le-zivi­le Iden­ti­tät Bos­ni­ens beru­fen, haben die Mehr­heit ihrer Wäh­ler­schaft in der mus­li­mi­schen Bevöl­ke­rung und wer­den somit auch als mus­li­mi­sche Par­tei­en wahr­ge­nom­men. Die­se Unter­schei­dung nach eth­ni­schen Gesichts­punk­ten hat sich vom poli­ti­schen Sys­tem auf jeg­li­che sozia­le Bewe­gung im Land übertragen. 

Bei­spiels­wei­se wur­de 1996 in Sara­je­vo die Gewerk­schaft Kon­fö­de­ra­ti­on der Unio­nen in Bos­ni­en (SSS­BiH) gegrün­det. Gleich­zei­tig wur­de in der Repu­bli­ka Srps­ka eine zwei­te Gewerk­schaft gegrün­det, die einer ser­bisch-natio­na­lis­ti­schen Ideo­lo­gie folg­te. Ende der 90er Jah­re gab es bereits 23 Gewerk­schaf­ten in der Föde­ra­ti­on und 15 Gewerk­schaf­ten in der Repu­bli­ka Srps­ka. Erst 2005 konn­ten sich bei­de Enti­tä­ten auf eine gemein­sa­me gewerk­schaft­li­che Dach­or­ga­ni­sa­ti­on einigen.

Das dys­funk­tio­na­le poli­ti­sche Sys­tem und die kata­stro­pha­le wirt­schaft­li­che Lage führ­te immer wie­der zu poli­ti­schen Kri­sen. So war das Land bei­spiels­wei­se 2011 ein Jahr lang ohne Regie­rung, doch damals blie­ben lan­des­wei­te Mas­sen­pro­tes­te aus. Ein gros­ses Hin­der­nis und eine wei­te­re Her­aus­for­de­rung für eine über­grei­fen­de, zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on stellt, wie bereits erwähnt, die kras­se Eth­ni­sie­rung des poli­ti­schen, öko­no­mi­schen und sozia­len Lebens dar. So wird jede For­de­rung unter den Aspekt der Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit gestellt und jeg­li­che Dis­kus­si­on von poli­ti­schen Fra­gen stellt letz­ten Endes die Staats­grün­dung von 1996 in Frage.

Ein Licht­blick für die in Gang gekom­me­nen Ver­än­de­run­gen des Lan­des stell­ten die in der Ein­lei­tung genann­ten Ereig­nis­se im Jahr 2014 dar.

Tragischer Tod von Neugeborenen wegen dysfunktionaler Politik 

Ende 2012 gab das Ver­fas­sungs­ge­richt Bos­ni­ens bekannt, dass die damals ange­wand­te Rege­lung für die Ver­ga­be der ID-Num­mern ungül­tig sei, da die­se die neu­en Städ­te- und Gemein­de­na­men, d.h. die nach dem Krieg geän­der­ten Namen, nicht umfas­se. Das Par­la­ment konn­te sich nicht dar­auf eini­gen, ob die Regis­trie­rungs­be­zir­ke für die ID-Num­mer ent­lang der Gren­zen der bei­den Enti­tä­ten ver­lau­fen oder ob es eine ein­heit­li­che, d.h. zen­tra­lis­ti­sche Regis­trie­rung geben soll. Die­ser absur­de anmu­ten­de Streit­punkt stellt letz­ten Endes die Exis­tenz des bos­ni­schen Gesamt­staa­tes in Fra­ge (Iler­hus 2013).

Als im Febru­ar 2013 die Frist für die Umset­zung des neu­en Geset­zes aus­lief, aber immer noch kei­ne Eini­gung bestand, konn­ten kei­ne neu­en Doku­men­te für Neu­ge­bo­re­ne mehr aus­ge­stellt wer­den. Zwei Mäd­chen erreich­ten dadurch trau­ri­ge Berühmt­heit. Bei­de Babies kamen schwer­krank zur Welt und hät­ten für eine Not­ope­ra­ti­on ins Aus­land rei­sen müs­sen. Doch die Behör­den konn­ten ihnen kei­ne Rei­se­päs­se aus­stel­len. Die tra­gi­sche Fol­ge war der Tod der weni­ge Wochen alten Kin­der, was in gros­sen Tei­len der Bevöl­ke­rung Mas­sen­kund­ge­bun­gen auslöste.

Die Bevölkerung geht in Massen auf die Strasse 

Bei­de Enti­tä­ten des Lan­des unter­stütz­ten die­se Pro­tes­te in gros­ser Zahl (89 % in der Föde­ra­ti­on und 77 % in der Repu­bli­ka Srps­ka) (Arma­ko­las und Mak­si­mo­vic 2013). Durch eine tem­po­rä­re Eini­gung unter den Poli­ti­kern und Poli­ti­ke­rin­nen konn­te die Bevöl­ke­rung beru­higt wer­den, die Pro­tes­te ebb­ten nach dem Som­mer 2013 lang­sam ab. Unge­fähr ein hal­bes Jahr spä­ter, Anfang 2014, rie­fen Arbei­te­rin­nen und Arbeit auf­grund von Pri­va­ti­sie­rungs­pro­zes­sen von vor­mals staat­li­chen Fir­men in der Stadt Tuz­la aber erneut zu Mas­sen­pro­tes­ten auf.

Die Pro­tes­te in Tuz­la mobi­li­sier­ten Stu­den­ten, Rent­ner, Kriegs­ve­te­ra­nen und Arbeits­lo­se in vie­len ande­ren Städ­ten. Die­ses Ereig­nis wur­de als die ers­te rea­le Gele­gen­heit ange­se­hen, das Para­dig­ma des Natio­na­lis­mus zu durch­bre­chen. Die all­täg­li­chen Pro­ble­me Bos­ni­ens, d.h. der auf­ge­bla­se­ne Staats­ap­pa­rat, die Kor­rup­ti­on und das dys­funk­tio­na­le Wirt­schafts­sys­tem betref­fen alle Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in glei­cher Manier, unab­hän­gig ihrer reli­giö­sen Zuge­hö­rig­keit. Dies lässt sich vor allem aus der Rhe­to­rik und aus den Akti­vi­tä­ten der Pro­tes­tie­ren­den schlies­sen, wel­che sich klar von allen bestehen­den Par­tei­en abgrenz­ten, kei­ne inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on um Unter­stüt­zung baten und basis­de­mo­kra­ti­sche Ple­nen einrichteten.

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Abbil­dung 4: Men­schen pro­tes­tie­ren in Zeni­ca, 10. Febru­ar 2014

Trotz der Mas­sen­kund­ge­bun­gen wei­te­te sich die Bewe­gung nur beschränkt auf die Repu­bli­ka Srps­ka aus – ver­ein­zelt fan­den Demons­tra­tio­nen in Ban­ja Luka statt, eine gros­se Unter­stüt­zung sei­tens der Arbei­te­rin­nen aus der Repu­bli­ka Srps­ka blieb jedoch aus. Ein Grund dafür waren auch die star­ken Repres­sio­nen, Dif­fa­mie­rung und Skan­da­li­sie­rung sei­tens der eth­nisch-büro­kra­ti­schen und öko­no­mi­schen Eli­te, der Medi­en und der Aka­de­mie in der ser­bi­schen Teilrepublik.

Auf loka­ler Ebe­ne erziel­ten die Pro­tes­tie­ren­den jedoch Erfol­ge: ver­ein­zel­te regio­na­le Regie­run­gen und Poli­ti­ker tra­ten von ihren Ämtern zurück und in Tuz­la wur­de eine neue Gewerk­schaft (Soli­dar­nost für Soli­da­ri­tät) gegrün­det, wel­che alle Arbei­ter und Arbei­te­rin­nen, unab­hän­gig ihres reli­giö­sen Hin­ter­grun­des, ver­tritt. Aus­ser­dem wur­de eine NGO gegrün­det, wel­che die Teil­neh­mer der Febru­ar­pro­tes­te ver­ei­nen und kol­lek­tiv orga­ni­sie­ren soll­te („Bewe­gung für die sozia­le Gerechtigkeit“).

Was kommt nach den Protesten im Jahre 2014/2015?

Trotz die­ses Hoff­nungs­schim­mers ebb­ten die Pro­tes­te, bedingt durch die Über­schwem­mun­gen im Jah­re 2014 und wegen der star­ke Repres­si­on sei­tens des Staats­ap­pa­ra­tes, lang­sam ab. Zudem haben die Pro­tes­tie­ren­den kei­ne ein­heit­li­che Par­tei gegrün­det, wel­che sich den Wah­len im Okto­ber 2014 hät­ten stel­len kön­nen. Dadurch haben sich wich­ti­ge Per­sön­lich­kei­ten der sozia­len Pro­tes­te bereits bestehen­den Par­tei­en ange­schlos­sen, was an deren Glaub­wür­dig­keit nagt.

Obwohl Kriegs­ve­te­ra­nen an den Demons­tra­tio­nen teil­nah­men, fehlt zuwei­len die star­ke Unter­stüt­zung der soge­nann­ten jugo­sla­wi­schen Genera­ti­on. Es scheint, als ob sich die Genera­ti­on der Bos­ni­er, wel­che Jugo­sla­wi­en noch erlebt und den Krieg über­lebt hat, zu apo­li­ti­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­gern ent­wi­ckel­ten. In der Gesell­schaft macht sich eine wach­sen­de Poli­tik­ver­dros­sen­heit breit. Nebst der mora­li­schen Unter­stüt­zung der jugo­sla­wi­schen Genera­ti­on fehlt eine akti­ve, zivil­ge­sell­schaft­li­che Arbeit die­ser Alters­grup­pe. Die­ser Teil der Gesell­schaft hegt noch Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al und es gäl­te, die­se Men­schen zu erreichen.

Damit die Pro­tes­te 2014 eine nach­hal­ti­ge Wir­kung haben, soll­ten Wis­sen­schaft­ler, Phi­lo­so­phen und Akti­vis­ten ein eige­nes poli­ti­sches Pro­gramm ent­wi­ckeln. Kon­kret heisst das, eine Par­tei grün­den, wei­te­re Seg­men­te der Gesell­schaft für ihre Sache gewin­nen, vor allem die oben genann­te Genera­ti­on der Jugo­sla­wen und ver­su­chen, die öffent­li­che Mei­nung zu beein­flus­sen. Nur so kön­nen zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vi­tä­ten eine rea­le Her­aus­for­de­rung für das bestehen­de poli­ti­sche Sys­tem darstellen.


Refe­ren­zen:

  • Andje­lic, N. (2003). Bos­nia-Her­ze­go­vina. The End of a Lega­cy. Lon­don: Frank Case.

  • Arma­ko­las, I. & Mak­si­mo­vic, M. (2013). “Baby­lu­ti­on” – A Civic Awa­ke­n­ing in Bos­nia and Her­ze­go­vina? South-East Euro­pe Pro­gram­me, Working Paper No 34.

  • Iler­hus, J. (2013). Sozia­le Pro­tes­te in Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na. Ein mög­li­ches Signal zum Auf­bruch. Fried­rich Ebert Stif­tung, 1–5.

  • Petro­vic, V. (2015). Ein Ver­gleich der Demo­kra­tie­qua­li­tät in Bos­ni­en-Her­ze­go­vina, Liba­non und Ser­bi­en. For­schungs­se­mi­nar­ar­beit. Zürich: IPZ.

  • Rue­sche­mey­er, D., Huber Ste­phens, E. & Ste­phens J.D. (1992). Capi­ta­list Deve­lo­p­ment and Demo­cra­cy. Corn­wall: Poli­ty Press.

  • Sej­fi­ja, I. (2007). Buil­ding Civil Socie­ty in Rela­ti­on to Sta­te Struc­tures. In:Fischer, Mar­ti­na (Hrsg.) Peace Buil­ding and Civil Socie­ty in Bos­nia-Her­ze­go­vina. Ten Years after Day­ton. Ber­lin: LIT Verlag.

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