Männer rund doppelt so häufig an Gemeindeversammlungen

Anders als bei Urnen­ab­stim­mun­gen betei­li­gen sich unter­schied­li­che sozia­le Schich­ten glei­cher­mas­sen an Gemein­de­ver­samm­lun­gen. Dafür offen­ba­ren sich bei der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie aus­ge­präg­te Geschlech­ter­un­ter­schie­de. Dies ergab ein Ver­gleich der indi­vi­du­el­len Betei­li­gung an Urnen- und Gemein­de­ver­samm­lungs­ent­schei­den in der Ber­ner Gemein­de Bolligen.

Die Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie ist das wohl radi­kals­te Ele­ment der direk­ten Demo­kra­tie. In der Schweiz ist sie in der Form der Gemein­de­ver­samm­lung oder auf kan­to­na­ler Ebe­ne der Lands­ge­mein­den in den Kan­to­nen Appen­zell Inner­rho­den und Gla­rus anzutreffen. 

Ver­gleicht man die Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie auf loka­ler Ebe­ne mit der Stimm­ab­ga­be an der Urne, so stellt man fest, dass bei­de Arten der Stimm­ab­ga­be unter­schied­li­che, spe­zi­fi­sche Tei­le der Stimm­be­völ­ke­rung anspre­chen. Indi­vi­du­el­le Cha­rak­te­ris­ti­ken wie der sozia­le Sta­tus, das Alter und das Geschlecht schei­nen dabei für die Teil­nah­me an der Urne und an Gemein­de­ver­samm­lun­gen eine unter­schied­li­che zu Rol­le spie­len. Somit sind gewis­se Inter­es­sen – bei­spiels­wei­se der jun­gen Genera­ti­on, der Frau­en oder von wenig Ver­die­nen­den – in der einen oder ande­ren Form der demo­kra­ti­schen Ent­schei­dungs­fin­dung stär­ker (unter-)vertreten.

INFOBOX: Deli­be­ra­ti­ve Demokratie

Auf Grund der nied­ri­gen Betei­li­gungs­ra­ten wird von man­chen die Legi­ti­mi­tät von Gemein­de­ver­samm­lun­gen in Fra­ge gestellt. Unser zen­tra­les Argu­ment baut hin­ge­gen dar­auf auf, dass der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie im Ver­gleich zur Urnen­de­mo­kra­tie eine fun­da­men­tal unter­schied­li­che Logik zu Grun­de liegt. Gemein­de­ver­samm­lun­gen kom­men dem Ide­al der deli­be­ra­ti­ven Demo­kra­tie (Mans­bridge 1980; Teo­rell 2006) am nächs­ten, wobei Bür­ge­rin­nen und Bür­ger Ent­schei­de auf Basis von in einer Dis­kus­si­on geäus­ser­ten Argu­men­ten fäl­len. Die­ses Demo­kra­tie­ver­ständ­nis impli­ziert auch, dass die Qua­li­tät der Ent­schei­de vor allem davon abhängt, ob vor­gän­gig eine deli­be­ra­ti­ve Dis­kus­si­on unter Ein­be­zug ver­schie­de­ner Prä­fe­ren­zen und Argu­men­te statt­ge­fun­den hat. Es spielt also weni­ger eine Rol­le, wie vie­le an poli­ti­schen Ent­schei­den teil­neh­men, son­dern wer sich mit wel­chen Inter­es­sen betei­ligt (Teo­rell 2006).

Interessen der wenig Verdienenden stärker vertreten 

Der Ver­gleich ergab, dass die Betei­li­gung an Gemein­de­ver­samm­lun­gen deut­lich weni­ger vom Ein­kom­men abhängt, als dies klas­si­scher­wei­se bei Urnen­ent­schei­den zu beob­ach­ten ist, wo die poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on typi­scher­wei­se mit dem Ein­kom­men steigt. Gut Ver­die­nen­den sind also in der Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie weni­ger prä­sent, als dies an der Urne der Fall ist.

Beteiligung

Bemer­kung: Die Gra­fik zeigt die vor­aus­ge­sag­te durch­schnitt­li­che Wahr­schein­lich­keit einer Betei­li­gung nach Einkommen.

Die Gemein­de­ver­samm­lung stellt gera­de für unte­re sozia­le Schich­ten eine rela­tiv attrak­ti­ve Form der Betei­li­gung dar. Einer­seits lässt sich dies mit der kon­den­sier­ten und „kos­ten­lo­sen“ Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung an Gemein­de­ver­samm­lun­gen erklä­ren. Hin­zu kommt, dass gera­de die Arbei­ter- und Mit­tel­klas­se oft bes­ser über loka­le The­men, die an Gemein­de­ver­samm­lun­gen zur Debat­te ste­hen, infor­miert sind als obe­re sozia­le Schich­ten (Bryan 2004: 120).

Rund doppelt so viele Männer an Gemeindeversammlungen

Wäh­rend Ein­kom­mens­un­ter­schie­de für die Betei­li­gung an Gemein­de­ver­samm­lung weni­ger aus­schlag­ge­bend sind, fällt dafür das Geschlecht weit­aus stär­ker ins Gewicht. Der Ver­gleich zwi­schen Urnen- und Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie deckt näm­lich aus­ge­präg­te Geschlech­ter­un­ter­schie­de auf: Im Gegen­satz zur Stimm­ab­ga­be an der Urne betei­li­gen sich Män­ner rund dop­pelt so häu­fig an Gemein­de­ver­samm­lun­gen wie Frau­en. Das Aus­mass des soge­nann­ten „Gen­der gaps“ ist damit deut­lich grös­ser als er je für (natio­na­le) Wah­len rap­por­tiert wurde. 

Beteiligung

Bemer­kung: Die Gra­fik zeigt die vor­aus­ge­sag­te durch­schnitt­li­che Wahr­schein­lich­keit einer Betei­li­gung nach Geschlecht sowie die vor­aus­ge­sag­te durch­schnitt­lich Geschlech­ter­dif­fe­renz in der Partizipation.

Begrün­den lässt sich dies einer­seits damit, dass der hohe Zeit­auf­wand für den Besuch der Gemein­de­ver­samm­lung Frau­en stär­ker von einer Betei­li­gung abhal­ten dürf­te als Män­ner. Ande­rer­seits wei­sen ver­schie­de­ne Stu­di­en dar­auf hin, dass die deli­be­ra­ti­ve Natur der Par­ti­zi­pa­ti­on in Gemein­de­ver­samm­lun­gen mit aus­ge­präg­te­ren Geschlech­ter­un­ter­schie­den ver­bun­den ist.

Fazit

Unser Bei­trag unter­stützt die Sicht­wei­se, dass Gemein­de­ver­samm­lun­gen nicht nur durch eine nied­ri­ge­re Betei­li­gungs­ra­te, son­dern auch durch eine spe­zi­fi­sche Zusam­men­set­zung der Wäh­ler­schaft gekenn­zeich­net sind. Auf der einen Sei­te kön­nen Gemein­de­ver­samm­lun­gen als ein Über­bleib­sel einer tra­di­tio­nel­len von Män­nern mitt­le­ren Alters* domi­nier­ten Demo­kra­tie betrach­tet werden.

Mit Fokus auf den sozia­len Sta­tus erwei­sen sich Gemein­de­ver­samm­lun­gen im Ver­gleich zu Urnen­ent­schei­den jedoch als „glei­cher“. In die­sem Sin­ne füh­ren die prä­sen­tier­ten Ana­ly­sen zum Schluss, dass die theo­re­tisch dis­ku­tier­ten Unter­schie­de in der demo­kra­ti­schen Logik, die hin­ter der jewei­li­gen Ent­schei­dungs­form steht, in der Rea­li­tät Wir­kung zei­gen. Sie füh­ren dazu, dass nicht nur bei­de Arten des poli­ti­schen Ein­be­zugs von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern zu einem gewis­sen Grad exklu­siv und inklu­siv sind, son­dern dass sie je unter­schied­li­che, spe­zi­fi­sche Tei­le der Stimm­be­völ­ke­rung ansprechen.

Für zukünf­ti­ge For­schung stellt sich vor die­sem Hin­ter­grund die Fra­ge, ob die­se Dif­fe­ren­zen eben­so das Resul­tat der getrof­fe­nen Ent­schei­de beein­flus­sen, sprich: ob sich Urnen- und Ver­samm­lungs­de­mo­kra­tie auch im Hin­blick auf die poli­ti­schen Inhal­te und die Zufrie­den­heit der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger unterscheiden.

INFOBOX: Daten

Die für die­se Ana­ly­se ver­wen­de­ten Daten umfas­sen die rea­le indi­vi­du­el­le Betei­li­gung an 15 poli­ti­schen Ent­schei­den in der Ber­ner Gemein­de Bol­li­gen. Die Daten­struk­tur erlaubt es uns, die glei­chen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger und ihr tat­säch­li­ches Par­ti­zi­pa­ti­ons­ver­hal­ten in Urnen­ent­schei­den und an Gemein­de­ver­samm­lun­gen über Zeit zu ver­glei­chen. Natür­lich las­sen sich aber des­halb unse­re Befun­de nicht ein­fach auf alle Schwei­zer Gemein­den oder gar die natio­na­le Ebe­ne verallgemeinern.

*Im die­sem Bei­trag zu Grun­de lie­gen­den Arti­kel tes­ten wir auch eine Hypo­the­se zur Alters­zu­sam­men­set­zung. Im Wesent­li­chen zeigt sich sowohl an der Urne wie auch an Gemein­desamm­lung das­sel­be Mus­ter: Die Par­ti­zi­pa­ti­on nimmt zunächst mit dem Alter zu, um dann nach Errei­chen des Ren­ten­al­ters wie­der zurück zu gehen.

Die­ser Bei­trag ist eine Kurz­fas­sung von: Sta­del­mann-Stef­fen, Isa­bel­le und Clau Der­mont (2015): How exclu­si­ve is assem­bly demo­cra­cy? Citi­zens’ assem­bly and bal­lot par­ti­ci­pa­ti­on com­pa­redSwiss Poli­ti­cal Sci­ence Review.


Refe­ren­zen

  • Bryan, Frank M. 2004. Real Demo­cra­cy: The New Eng­land Town Mee­ting and how it Works. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty Of Chi­ca­go Press.

  • Mans­bridge, Jane J. 1980. Bey­ond Advers­a­ry Demo­cra­cy. New York: Basic Books.

  • Teo­rell, Jan. 2006. Poli­ti­cal par­ti­ci­pa­ti­on and three theo­ries of demo­cra­cy: A rese­arch inven­to­ry and agen­da. Euro­pean Jour­nal of Poli­ti­cal Rese­arch 45(5): 787–810.

Foto: Wiki­me­dia Commons

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