Schweizerische Konsensdemokratie: Harmonische Zusammenarbeit und breite Integration?

Die Schweiz ver­steht sich ger­ne als har­mo­ni­sche Kon­sens­de­mo­kra­tie, in der alle gemein­sam arbei­ten. Unse­re Ana­ly­se zeigt: in Wirk­lich­keit prä­gen Macht­ver­hält­nis­se und Ideo­lo­gie die Poli­tik. In eini­gen Fel­dern aber sor­gen bestimm­te Pro­zess­merk­ma­le für mehr Zusammenarbeit.

Ger­ne wird in der Schwei­zer Poli­tik betont, wie wich­tig es sei, breit zusam­men zu arbei­ten und sämt­li­che Inter­es­sen mit ein­zu­be­zie­hen. Koope­ra­tio­nen über Par­tei­gren­zen hin­weg, Sozi­al­part­ner­schaft sowie Ver­bin­dun­gen zwi­schen Par­tei­en, Ver­bän­den und dem Staat sei­en wich­tig, damit aus­ge­wo­ge­ne und für alle akzep­ta­ble Lösun­gen erar­bei­tet wer­den kön­nen. Unse­re Ana­ly­se ent­larvt die­ses Selbst­bild jedoch teil­wei­se als Mythos: Auch im Kon­kor­danz­sys­tem Schweiz bestim­men vor allem ideo­lo­gi­sche Prä­fe­ren­zen und Macht­ver­hält­nis­se die Zusam­men­ar­beit zwi­schen poli­ti­schen Akteuren.

Basie­rend auf Inter­views mit Ver­tre­tern der poli­ti­schen Eli­te haben wir unter­sucht, wel­che Fak­to­ren erklä­ren kön­nen, ob zwei Akteu­re zusam­men­ar­bei­ten oder nicht (Fischer und Scia­ri­ni 2015, Info­box 1). Für die Ana­ly­se kamen spe­zi­el­le sta­tis­ti­sche Model­le für Netz­werk­da­ten zum Ein­satz (Info­box 2).

Info­box 1: SNF-For­schungs­pro­jekt The Swiss decisi­on-making sys­tem in the 21th cen­tu­ry: power, insti­tu­ti­ons, conflicts.
Im Rah­men des vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds finan­zier­ten For­schungs­pro­jek­tes haben die Autoren, zusam­men mit Deni­se Tra­ber, die elf wich­tigs­ten Ent­schei­dungs­pro­zes­se zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts unter­sucht. Dazu gehö­ren fol­gen­de Fäl­le: 11. AHV-Revi­si­on, Ver­fas­sungs­ar­ti­kel Bil­dung, Kern­ener­gie­ge­setz, Infra­struk­tur­fonds, Neu­er Finanz­aus­gleich, Neu­es Aus­län­der­ge­setz, Ent­las­tungs­pro­gramm 2003, Revi­si­on Fern­mel­de­ge­setz, Bila­te­ra­les Abkom­men Schen­gen-Dub­lin, Bila­te­ra­les Abkom­men Zins­be­steue­rung, Erwei­te­rung Per­so­nen­frei­zü­gig­keit. Die Unter­su­chun­gen basie­ren auf 251 Inter­views mit Ver­tre­tern der Ver­wal­tung, Par­tei­en, Inter­es­sen­grup­pen, Kan­to­nen und der Wis­sen­schaft. Die Erkennt­nis­se aus dem Pro­jekt sind im Som­mer 2015 in Buch­form erschie­nen (Scia­ri­ni, Fischer & Tra­ber).

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Weniger Zusammenarbeit als erwartet

Die Resul­ta­te zei­gen zunächst, dass es in der Schwei­zer Poli­tik weni­ger Zusam­men­ar­beit gibt, als man es auf­grund ihres Rufes als Kon­sens­de­mo­kra­tie anneh­men könn­te. Je nach Ent­schei­dungs­pro­zess gaben Akteu­re an, im Durch­schnitt nur mit 27 bis 43 Pro­zent der ande­ren, wich­tigs­ten Akteu­re zusam­men­zu­ar­bei­ten (Bei­spiel eines Zusam­men­ar­beits­netz­wer­kes in der Abbil­dung oben). Wei­ter zeigt sich, dass in allen elf unter­such­ten Pro­zes­sen zwei Fak­to­ren den Grad der Zusam­men­ar­beit stark beein­flus­sen (Zusam­men­fas­sung der Resul­ta­te in der Über­sicht unten). Bei­de wei­sen nicht unbe­dingt auf brei­te und inklu­si­ve Zusam­men­ar­beit hin.

  • Einer­seits arbei­ten jene Akteu­re zusam­men, wel­che ähn­li­che ideo­lo­gi­sche Prä­fe­ren­zen haben. Dies ist wenig erstaun­lich, dient doch Zusam­men­ar­beit nicht nur dem Erar­bei­ten einer breit akzep­tier­ten Lösung, son­dern auch der stra­te­gi­schen Koor­di­na­ti­on inner­halb von Koali­tio­nen. Aller­dings führt dies im Extrem­fall zu einer Pola­ri­sie­rung zwi­schen zwei Koali­tio­nen, die bei­de ihre jeweils eige­nen Zie­le ver­fol­gen, aber nicht gegen­sei­tig auf Ver­hand­lun­gen und Kom­pro­miss­an­ge­bo­te eingehen.

  • Ande­rer­seits sind ein­fluss­rei­che Akteu­re beson­ders beliebt als Zusam­men­ar­beits­part­ner. Auch dies mag nicht erstau­nen: Akteu­re ver­su­chen ihren eige­nen Ein­fluss zu erhö­hen und suchen somit die Zusam­men­ar­beit mit jenen, die einen Ent­schei­dungs­pro­zess stark beein­flus­sen kön­nen. Im End­ef­fekt kann dies aber zu einer hier­ar­chi­schen statt einer inklu­si­ven und aus­ba­lan­cier­ten Zusam­men­ar­beits­struk­tur füh­ren, bei wel­cher die ein­fluss­reichs­ten Akteu­re im Zen­trum stehen.

Resultate

Lesebeispiel: Grüne Felder deuten auf einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen dem Faktor in der linken Spalte und der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren im entsprechenden Prozess hin. Weiss bedeutet keinen Zusammenhang, rot einen negativen Zusammenhang. 
Was die Kooperation stärkt

Den­noch zeigt unse­re Ana­ly­se, dass gewis­se Merk­ma­le eines poli­ti­schen Sys­tems brei­te Zusam­men­ar­beit über Ideo­lo­gie und Macht hin­aus stär­ken kön­nen. Hier schei­nen eini­ge Cha­rak­te­ris­ti­ka des poli­ti­schen Sys­tems der Schweiz in ein­zel­nen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen zu wirken.

  • Die Aus­ge­stal­tung eines Ent­schei­dungs­pro­zes­ses spielt eine Rol­le: Exper­ten­gre­mi­en und Arbeits­grup­pen, in wel­chen wich­ti­ge Ent­schei­de gefällt wer­den, haben einen zusam­men­ar­beits­för­dern­den Cha­rak­ter. Wenn Akteu­re gemein­sam in sol­chen Etap­pen des Ent­schei­dungs­pro­zes­ses tätig sind, ten­die­ren sie stär­ker zur Zusammenarbeit.

  • Staat­li­che Akteu­re kön­nen inte­gra­tiv wir­ken, wenn sie sel­ber ein spe­zi­fi­sches Inter­es­se am Erfolg des Ent­schei­dungs­pro­zes­ses haben. Dies ist vor allem bei inter­na­tio­na­li­sier­ten Geschäf­ten der Fall, in wel­chen staat­li­che Akteu­re eige­ne Inter­es­sen zu ver­tre­ten haben. Sie sind in sol­chen Fäl­len beson­ders aktiv und ver­su­chen, mög­lichst vie­le (kri­ti­sche) Akteu­re in die Lösungs­fin­dung einzubeziehen.

  • Die rela­tiv klei­ne Grös­se der schwei­ze­ri­schen poli­ti­schen Eli­te spielt eben­falls eine Rol­le. Es ist von Vor­teil, wenn sich Akteu­re bereits aus ande­ren Sek­to­ren ken­nen: Zusam­men­ar­beit in einem spe­zi­fi­schen Pro­zess wird durch exis­tie­ren­de Zusam­men­ar­beit in par­al­le­len Pro­zes­sen begüns­tigt. Dies ist vor allem der Fall, wenn sich der spe­zi­fi­sche Pro­zess mit rela­tiv brei­ten und sek­tor­über­grei­fen­den The­men auseinandersetzt.

Es kommt auf das System an

Dass in der Schwei­zer Poli­tik alle Akteu­re grund­sätz­lich eng zusam­men­ar­bei­ten, ist ein Mythos. Viel­mehr geschieht Zusam­men­ar­beit unter dem Ein­fluss spe­zi­fi­scher Fak­to­ren. Die wich­tigs­ten davon sind ähn­li­che ideo­lo­gi­sche Prä­fe­ren­zen zwi­schen den Akteu­ren und der Ein­fluss der Akteu­re. Einer­seits arbei­ten Akteu­re, die sich inhalt­lich einig sind, stark zusam­men, was dem Bild einer brei­ten Zusam­men­ar­beit über Par­tei­gren­zen hin­weg und im Rah­men von Sozi­al­part­ner­schaf­ten teil­wei­se wider­spricht. Ande­rer­seits suchen Akteu­re die Zusam­men­ar­beit vor allem mit ein­fluss­rei­chen Akteu­ren. Dies wie­der­um deu­tet nicht in die Rich­tung eines brei­ten Ein­be­zugs von Akteu­ren, auch von sol­chen, die weni­ger wich­tig sind.

In eini­gen Poli­tik­be­rei­chen zeigt sich jedoch die Wir­kung des Schwei­zer Kon­sens­sys­tems. Aus die­sen Berei­chen könn­ten allen­falls wich­ti­ge Ein­sich­ten dazu gewon­nen wer­den, wie die Schweiz der Pola­ri­sie­rung der Poli­tik begeg­nen könnte.

INFOBOX 2: Metho­dik der Analyse

Expo­nen­ti­al Ran­dom Graph Models (ERGM) berück­sich­ti­gen die Tat­sa­che, dass Beob­ach­tun­gen in Netz­wer­ken nicht unab­hän­gig von­ein­an­der sind, und nor­ma­le sta­tis­ti­sche Model­le für die Ana­ly­se sol­cher Daten des­halb unge­eig­net sind.


Refe­ren­zen: 

Foto: Eid­ge­nös­si­sches Jus­tiz- und Polizeidepartement

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