Führen Kruzifixe im Schulzimmer zu einer ablehnenden Einstellung gegenüber Muslimen?

Eine star­ke För­de­rung der christ­li­chen Tra­di­ti­on steht in einem engen Zusam­men­hang mit einer eher ableh­nen­den Ein­stel­lung der Bevöl­ke­rung gegen­über Mus­li­men. Das zeigt unse­re ver­glei­chen­de Stu­die der 26 Schwei­zer Kantone.

In den Kan­to­nen, die die christ­li­che Kul­tur­tra­di­ti­on stark för­dern, sind mehr Men­schen der Ansicht, es gebe „zu vie­le Mus­li­me im Land“. Sie ver­tre­ten auch eher die Ansicht, dass Mus­li­me nicht das Recht haben soll­ten, Mina­ret­te zu bau­en und ste­hen einem Recht mus­li­mi­scher Frau­en, auf der Stras­se ein Kopf­tuch zu tra­gen, skep­tisch gegen­über (sie­he Abbil­dung 1).

Inter­es­san­ter­wei­se ist eine sym­bo­lisch-kul­tu­rel­le staat­li­che Unter­stüt­zung – also gesetz­li­che reli­giö­se Fei­er­ta­ge, Reli­gi­ons­un­ter­richt an den öffent­li­chen Schu­len oder auch reli­giö­se Sym­bo­le auf kan­to­na­len Flag­gen – bedeu­ten­der als eine rein öko­no­mi­sche Unter­stüt­zung wie etwa die Kir­chen­steu­er. Dabei scheint es sich jeweils um einen brei­ten kul­tu­rel­len Kon­sens inner­halb der Bevöl­ke­rung zu han­deln, denn reli­giö­se und säku­la­re Bür­ger unter­schei­den sich in ihren Ein­stel­lun­gen gegen­über Mus­li­men über­haupt nicht.

Abbil­dung 1:

Muslime Rechte

Abbil­dung 1: Wie die staat­li­che Unter­stüt­zung von Reli­gi­on die Ein­stel­lung zu mus­li­mi­schen Immi­gran­ten und ihren reli­giö­sen Rech­ten beein­flusst. Vor­her­sa­gen eines sta­tis­ti­schen Modells für 26 Schwei­zer Kan­to­ne, das sowohl indi­vi­du­el­le Befrag­ten­merk­ma­le als auch die Anzahl der Mus­li­me und die all­ge­mei­ne Inte­gra­ti­ons­po­li­tik berücksichtigt.

Info­box 1: Ein­stel­lung zu Mus­li­men: Reli­gious Sup­port Index
 Als Mass­stab für die indi­vi­du­el­len Ein­stel­lun­gen zu Mus­li­men haben wir Daten der Schwei­ze­ri­schen Wahl­um­fra­ge von 2011 genutzt, die zum ers­ten Mal Fra­gen zu Ein­stel­lun­gen nicht nur betref­fend Mus­li­men an sich, son­dern auch betref­fend dem Kopf­tuch und dem Bau von Mina­ret­ten beinhal­te­te. Die Regu­lie­rung von Reli­gi­on auf kan­to­na­ler Ebe­ne haben wir nach dem Vor­bild des Reli­gi­on and Sta­te Pro­ject von Jona­than Fox aus dem Jahr 2011 ana­ly­siert. Der Reli­gious Sup­port Index misst unter ande­rem, ob es an Schu­len christ­li­chen Reli­gi­ons­un­ter­richt gibt, ob Kir­chen und kirch­li­che Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen finan­zi­ell unter­stützt wer­den, ob Kir­chen­steu­ern ein­ge­zo­gen wer­den und es Restrik­tio­nen wäh­rend reli­giö­ser Fei­er­ta­ge gibt sowie ob reli­giö­se Sym­bo­le auf kan­to­na­len Flag­gen vor­han­den sind.
 Religiöse Neuankömmlinge werden als Bedrohung wahrgenommen

Wir erklä­ren uns die Wir­kung so, dass unter den Bedin­gun­gen einer star­ken reli­gi­ös-kul­tu­rel­len Durch­drin­gung des öffent­li­chen Lebens reli­giö­se Neu­an­kömm­lin­ge eher als Bedro­hung für die eige­ne Tra­di­ti­on und Lebens­wei­se wahr­ge­nom­men wer­den. Denn ein reli­gi­ons­po­li­ti­sches Ent­ge­gen­kom­men zuguns­ten der mus­li­mi­schen Min­der­heit wür­de immer auch einen Ver­zicht auf eige­ne Pri­vi­le­gi­en und Gewohn­hei­ten bedeu­ten. In Kon­tex­ten, in denen Staat und Reli­gi­on kla­rer getrennt sind, gibt es dem­ge­gen­über weni­ger zu verlieren.

Die Zuwan­de­rung von Mus­li­men ist in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten in den meis­ten west­eu­ro­päi­schen Län­dern zu einem der kon­tro­ver­ses­ten poli­ti­schen The­men gewor­den. In der wis­sen­schaft­li­chen Debat­te ist man sich noch nicht einig, inwie­fern sich die­se Dis­kus­si­on von all­ge­mei­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen über Immi­gra­ti­on unter­schei­den lässt: Sind Mus­li­me ein­fach eine neue Grup­pe von Migran­ten, oder stel­len sie ihre Gast­län­der vor völ­lig neue Herausforderungen?

Muslimische Praktiken stehen im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen um Zuwanderung

Fest­zu­stel­len ist jeden­falls, dass reli­giö­se Prak­ti­ken wie das Tra­gen eines Kopf­tu­ches oder einer Bur­ka und reli­giö­se Bau­ten wie Moscheen oder Mina­ret­te in ver­schie­de­nen euro­päi­schen Län­dern im Zen­trum der jün­ge­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Zuwan­de­rung ste­hen. Die meis­ten Stu­di­en zu Ein­stel­lun­gen gegen­über mus­li­mi­schen Migran­ten haben dem beson­de­ren Aspekt der Reli­gi­on jedoch bis­lang zu wenig Rech­nung getra­gen. Sie befas­sen sich mit gene­rel­len Fak­to­ren zur Erklä­rung von Frem­den­feind­lich­keit. So konn­te bei­spiels­wei­se auf­ge­zeigt wer­den, dass die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on in einem Land sowie die Anzahl der Immi­gran­ten indi­vi­du­el­le Ein­stel­lun­gen gegen­über Zuwan­de­rern prä­gen. Eben­falls von Bedeu­tung ist gemäss meh­re­rer Stu­di­en die Real­po­li­tik eines Staa­tes: In Län­dern mit restrik­ti­ver Ein­bür­ge­rungs­po­li­tik sind indi­vi­du­el­le Ein­stel­lung nega­ti­ver als in Län­dern mit libe­ra­ler Einbürgerungspolitik.

Die­se Aspek­te lie­fern sicher­lich wert­vol­le Erklä­run­gen dafür, wie­so Ein­hei­mi­sche nega­tiv gegen­über Mus­li­men ein­ge­stellt sind. Wir sind aber der Mei­nung, dass auch spe­zi­fi­sche­re Erklä­rungs­an­sät­ze for­mu­liert und getes­tet wer­den soll­ten, die dem reli­giö­sen Aspekt mus­li­mi­scher Ein­wan­de­rung Rech­nung tra­gen. In unse­rer Stu­die haben wir daher das Haupt­au­gen­merk auf die Bezie­hun­gen zwi­schen Staat und Kir­che gelegt.

Religion auch im angeblich säkularen Europa präsent

Auch wenn west­eu­ro­päi­sche Bür­ger immer sel­te­ner reli­gi­ös sind, so sind kol­lek­ti­ve Iden­ti­tä­ten und öffent­li­che Insti­tu­tio­nen doch fest in his­to­ri­schen reli­giö­sen Tra­di­tio­nen ver­an­kert. Die­se Wer­te und Iden­ti­tä­ten wer­den nicht nur durch die Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, son­dern auch über Bil­dung und die Medi­en ver­brei­tet. Dadurch ist Reli­gi­on auch im All­tag von Men­schen prä­sent, die sich selbst nicht als reli­gi­ös bezeich­nen würden.

Reli­gi­on und Reli­gi­ons­po­li­tik sind in west­eu­ro­päi­schen Gesell­schaf­ten weit mehr als ein abs­trak­tes mora­li­sches Wert­fun­da­ment oder all­ge­mein for­mu­lier­te Ver­fas­sungs­grund­sät­ze. Gera­de in Gesell­schaf­ten, die sich selbst als säku­lar bezeich­nen, spie­len Insti­tu­tio­nen eine wich­ti­ge Rol­le: Für die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger klar erfahr­bar zieht der Staat Kir­chen­steu­ern ein, ist für den kon­fes­sio­nel­len Reli­gi­ons­un­ter­richt in öffent­li­chen Schu­len zustän­dig, unter­stützt zahl­rei­che reli­giö­se Wohl­fahrts­ak­ti­vi­tä­ten und gibt reli­giö­se Fei­er­ta­ge vor. Unter sol­chen Bedin­gun­gen kön­nen neue reli­giö­se Grup­pen und ihre For­de­run­gen nach reli­giö­sen Rech­ten schnell als Gefahr für die eige­ne eth­nisch-reli­giö­se Iden­ti­tät und für bestehen­de Pri­vi­le­gi­en wahr­ge­nom­men werden.

Info­box 2: Metho­de und Analyse
Die Schweiz bie­tet idea­le Vor­aus­set­zun­gen, um die Rol­le der Staat-Kir­chen-Bezie­hung für die Ein­stel­lung gegen­über Mus­li­men empi­risch zu tes­ten. Die föde­ra­le Struk­tur mit 26 Kan­to­nen bie­tet eine gro­ße reli­gi­ons­po­li­ti­sche Viel­falt mit von Kan­ton zu Kan­ton unter­schied­li­cher staat­li­cher Unter­stüt­zung der christ­li­chen Religion.

Wir konn­ten zei­gen, dass die Varia­ti­on die­ser Regime ver­gleich­bar ist mit den Unter­schie­den, die man zwi­schen west­eu­ro­päi­schen Län­dern beob­ach­tet. Wäh­rend in eini­gen Kan­to­nen eine kla­re Tren­nung zwi­schen Kir­che und Staat ähn­lich dem fran­zö­si­schen Modell fest­zu­stel­len ist, kann man in ande­ren Kan­to­nen von Staats­kir­chen nach skan­di­na­vi­schem Vor­bild spre­chen. Das gab uns die ein­ma­li­ge Mög­lich­keit, auf engem Raum und unter kon­trol­lier­ten Bedin­gun­gen ver­schie­de­ne For­men der Reli­gi­ons­po­li­tik auf ihre Kon­se­quen­zen für das sozia­le Mit­ein­an­der hin zu unter­su­chen. Die Schweiz dient uns also in die­sem Fall als eine Art Labor für ganz Europa.

Die Ergeb­nis­se unse­rer Stu­die sind für die gegen­wär­ti­ge Ein­wan­de­rungs­de­bat­te wie für die grund­sätz­li­che Fra­ge des Zusam­men­hangs von Reli­gi­on und Demo­kra­tie in den moder­nen Gesell­schaf­ten West­eu­ro­pas bedeut­sam. Sie zei­gen, dass neben Fra­gen der Demo­gra­fie und der wirt­schaft­li­chen Situa­ti­on auch insti­tu­tio­nel­le Regeln eine ent­schei­den­de Grö­ße für die Erklä­rung von Ein­stel­lun­gen gegen­über Immi­gra­ti­on sind; im Fal­le der mus­li­mi­schen Ein­wan­de­rung ins­be­son­de­re die Regeln zum Ver­hält­nis von Staat und Religion.

Die­se Erkennt­nis ist von demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Bedeu­tung. In letz­ter Zeit ist die klas­si­sche libe­ra­le For­de­rung nach einer kla­ren Tren­nung von Staat und Reli­gi­on in die Defen­si­ve gera­ten. Staat­li­che Unter­stüt­zung von Reli­gi­on ist in West­eu­ro­pa nicht nur weit­ver­brei­tet, sie wird von eini­gen For­schern auch als unpro­ble­ma­tisch ein­ge­stuft. Unse­re Ergeb­nis­se mah­nen dem­ge­gen­über zur Vor­sicht. Selbst wohl­wol­len­de Reli­gi­ons­po­li­tik kann nicht-inten­dier­te Fol­gen nach sich zie­hen, die dem sozia­len Mit­ein­an­der der Reli­gio­nen abträg­lich sind. Mus­li­me wer­den mög­li­cher­wei­se als kul­tu­rell-reli­giö­se Bedro­hung für Gesell­schaf­ten wahr­ge­nom­men, deren kol­lek­ti­ve Iden­ti­tä­ten und öffent­li­che Insti­tu­tio­nen weit weni­ger säku­lar sind, als sie selbst es zugeben.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag basiert auf: Marc Helb­ling und Richard Traun­mül­ler (2015). Regeln — und was sie bewir­ken. Das Ver­hält­nis von Staat und Reli­gi­on prägt die Ein­stel­lun­gen zu Mus­li­menWZB-Mit­tei­lun­gen, Heft 147: 14–16. 


Refe­ren­zen

  • Fox, Jona­than (2008). A World Sur­vey of Reli­gi­on and the Sta­te. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.

  • Marc Helb­ling und Richard Traun­mül­ler (2016). How Sta­te Sup­port of Reli­gi­on Shapes Atti­tu­des Toward Mus­lim Immi­grants, Com­pa­ra­ti­ve Poli­ti­cal Stu­dies (forth­co­m­ing).

  • Grim, Bri­an und Roger Fin­ke (2011). The Pri­ce of Free­dom Denied. Reli­gious Per­se­cu­ti­on and Con­flict in the 21st Cen­tu­ry. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.

  • Ing­le­hart, Ronald F. und Pip­pa Nor­ris (2004). Sac­red and Secu­lar: Reli­gi­on and Poli­tics World­wi­de. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press.

Foto: Wiki­me­dia Commons

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