Die Wahlteilnahme: staatsbürgerliche Pflicht vs. freiwillige Entscheidung

Geht jemand aus Pflicht­be­wusst­sein wäh­len und falls ja, bei wel­chen Wah­len? Gibt es Unter­schie­de zwi­schen Jün­ge­ren und Älte­ren? Die inter­na­tio­na­le For­scher­grup­pe des Making Elec­to­ral Demo­cra­cy Work-Pro­jekts unter­sucht die­se Fra­ge bei unter­schied­li­chen Wah­len in der Schweiz sowie in Deutsch­land, Frank­reich, Kana­da und Spa­ni­en. Ihre Resul­ta­te zei­gen: Je wei­ter weg das Par­la­ment, bei­spiels­wei­se die Euro­pa­wah­len, des­to weni­ger betrach­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die Wahl­teil­nah­me als Pflicht. Jun­ge Men­schen sehen dies nicht anders als ältere.

Die unter­durch­schnitt­li­che Wahl­be­tei­li­gung der jun­gen Erwach­se­nen in der Schweiz ist nicht auf ein weni­ger aus­ge­präg­tes staats­bür­ger­li­ches Pflicht­be­wusst­sein zurück­füh­ren. Jun­ge Men­schen zei­gen sich in Befra­gun­gen eben­so davon über­zeugt, dass der Gang an die Urne zu den Pflich­ten eines Staats­bür­gers gehört wie älte­re Men­schen. Trotz­dem gehen Jun­ge weni­ger oft an die Urne.

Andere Länder, andere Haltungen

Für Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer ist die Wahl­teil­nah­me ganz klar eine frei­wil­li­ge Ent­schei­dung. Nur drei von zehn Befrag­ten sind der Ansicht, dass es sich beim Wahl­akt um eine staats­bür­ger­li­che Pflicht handelt.

In ande­ren Län­dern ist es genau umge­kehrt: Sie­ben von zehn befrag­ten Kana­di­er sehen die Wahl­teil­nah­me bei allen Wah­len als Pflicht. In Spa­ni­en und Frank­reich sind rund sechs von zehn Befrag­ten der Mei­nung, dass die Teil­nah­me an regio­na­len und natio­na­len Wah­len eine Staats­bür­ger­pflicht sei. In Deutsch­land ist es hin­ge­gen ähn­lich wie in der Schweiz. Nur unge­fähr ein Drit­tel der Befrag­ten betrach­tet die Wahl­teil­nah­me als Pflicht, für die Mehr­heit ist es eine frei­wil­li­ge Entscheidung.

Wieso geht jemand überhaupt an die Urne?

Mit einer rein zweck­ra­tio­na­len Kos­ten-Nut­zen-Ana­ly­se ist die Wahl­teil­nah­me ganz all­ge­mein schwer zu erklä­ren. Eine ein­zel­ne Per­son kann durch die Wahl­teil­nah­me nur minim auf das Ergeb­nis ein­wir­ken oder die Poli­tik zu ihren Guns­ten ver­än­dern. Zudem ist es auf­wän­dig, sich über die Par­tei­en und Kan­di­die­ren­den zu infor­mie­ren, die Wahl­un­ter­la­gen aus­zu­fül­len und abzu­schi­cken oder am Wahl­tag in die Urne zu wer­fen. Heu­ris­ti­ken (s. Info­box) kön­nen die Infor­ma­ti­ons­kos­ten ver­rin­gern, jedoch muss es auch ande­re, nicht rein zweck­ra­tio­na­le Grün­de für die Wahl­be­tei­li­gung geben.

INFOBOX: Heu­ris­ti­ken

Heu­ris­ti­ken sind soge­nann­te kogni­ti­ve Abkür­zun­gen, um mit wenig Auf­wand und begrenz­tem Vor­wis­sen die rich­ti­ge Ent­schei­dung zu tref­fen (Kah­ne­man 2012). Heu­ris­ti­ken ver­ein­fa­chen das Erfas­sen, Ver­ar­bei­ten und Bewer­ten von Infor­ma­tio­nen. Im Zusam­men­hang mit der Poli­tik sind ins­be­son­de­re Ideo­lo­gien, aber auch Ver­trau­en in Par­tei­en und Kan­di­die­ren­de hilf­reich, um den Wahl­ent­scheid zu tref­fen. Eine Ideo­lo­gie ver­ein­facht es der Wäh­ler­schaft, neue Infor­ma­tio­nen und poli­ti­sche Pro­ble­me in ihre vor­han­de­ne Welt­sicht ein­zu­bin­den. Par­tei­en und Kan­di­die­ren­de als Trä­ger von Ideo­lo­gien und auch als “poli­ti­sche Label” offe­rie­ren fer­ti­ge Poli­tik­pa­ke­te aus Ant­wor­ten zu den drän­gends­ten Fra­gen der Zeit, sodass sich Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler nicht mit jedem Pro­blem ein­zeln beschäf­ti­gen müssen. 

Zufrieden durch das Erfüllen staatsbürgerlicher Pflichten

Man­che Men­schen haben durch die Wahl­teil­nah­me einen zusätz­li­chen Nut­zen (Ald­rich 1993): Sie macht sie zufrie­den! Sie sind ihrer staats­bür­ger­li­chen Pflicht nach­ge­kom­men, sie kön­nen sich als gute Demo­kra­ten füh­len und sich als pflicht­be­wuss­te Bür­ger prä­sen­tie­ren. Die­ser Nut­zen bedingt aber, dass Bür­ge­rin­nen und Bür­ger davon über­zeugt sind, dass die Wahl­be­tei­li­gung über­haupt eine Pflicht ist.

Aber auf wie vie­le und wel­che Bür­ge­rin­nen und Bür­ger trifft dies zu? Im Rah­men des Making Elec­to­ral Demo­cra­cy Work- Pro­jekts wur­den die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger aus je zwei aus­ge­wähl­ten Regio­nen der Schweiz, Deutsch­land, Frank­reich, Kana­da und Spa­ni­en gefragt, ob sie die Wahl­teil­nah­me an regio­na­len, natio­na­len und Euro­pa­wah­len eher als eine Pflicht oder einen frei­wil­li­gen Ent­scheid betrachten.

Je mehr Einfluss das Volk nehmen kann, desto weniger wichtig sind Parlamentswahlen

Wäh­le­rinn­nen und Wäh­ler betrach­ten die unter­schied­li­chen Wah­len je nach Land und des­sen Geschich­te anders. Die­se inter­na­tio­na­len Unter­schie­de kön­nen unter ande­rem auf die jewei­li­gen Regie­rungs­sys­te­me zurück­ge­führt wer­den (sie­he Infobox). 

Tabelle 1:  Wahlteilnahme als Pflicht vs. freiwilliger Entscheid, Unterschiede nach Land und Regierungsebene (2011–2014)

Ebene\Land

 

CA

(ON/QC)

CH

(LU/ZH)

DE

(BY/NDS)

ES

(Cat/Mad)

FR

regio­nal

Pflicht

71.8

31.2

35.1

59.3

 
 

frei­wil­lig

24.7

64.8

60.1

37.3

 
       

natio­nal

Pflicht

71.4

35.4

37.7

58.4

63.4

 

frei­wil­lig

24.8

60.7

57.6

38.3

32.5

       

EU

Pflicht

  

26.9

43.9

47.8

 

frei­wil­lig

  

61.6

52.1

46.0

Quel­le: Wäh­ler­be­fra­gun­gen „Making Elec­to­ral Demo­cra­cy Work“, electoraldemocracy.com

Anmer­kun­gen zu Tabel­le 1: Antei­le Befrag­te, die Wahl­teil­nah­me als Pflicht oder frei­wil­li­gen Ent­scheid betrach­ten nach Land und Regio­nen sowie Regie­rungs­ebe­ne (regio­na­le, natio­na­le und Euro­pa­wah­len, 2011–2014). Die aus­ge­wähl­ten Regio­nen sind in Cana­da die Pro­vin­zen Onta­rio und Que­bec, in der Schweiz die Kan­to­ne Luzern und Zürich, in Deutsch­land die Bun­des­län­der Bay­ern und Nie­der­sach­sen und in Spa­ni­en die Regio­nen Kata­lo­ni­en und Madrid. In Frank­reich wur­den kei­ne regio­na­len Wah­len untersucht.

Je näher die Wahlen, desto wichtiger die Teilnahme

Ver­gleicht man die euro­päi­sche Ebe­ne mit den natio­na­len und regio­na­len Wah­len in Kan­to­nen, Bun­des­län­dern oder Pro­vin­zen, fällt auf, dass die Teil­nah­me an Euro­pa­wah­len über­all von weni­ger Befrag­ten als Pflicht gese­hen wird. Bereits frü­he­re Unter­su­chun­gen zeig­ten, dass vie­le Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler die Euro­pa­wahl als soge­nann­te „second-order-elec­tions“, d.h. Wah­len von unter­ge­ord­ne­ter Wich­tig­keit, betrach­ten (Reif/Schmitt 1980). Die Teil­nah­me an den Euro­pa­wah­len sehen die Befrag­ten auch im Durch­schnitt über­all weni­ger als ihre Bür­ger­pflicht an als die Teil­nah­me an den ande­ren Wahlen.

Regio­na­le Wah­len wer­den in Deutsch­land und der Schweiz von weni­ger Befrag­ten als Pflicht wahr­ge­nom­men als natio­na­le Wah­len, in Spa­ni­en und Kana­da gibt es kei­ne Unterschiede. 
Zu erklä­ren sind die­se Wer­te unter ande­rem mit der unter­schied­li­chen Aus­ge­stal­tung des Föde­ra­lis­mus bzw. der Dezen­tra­li­sie­rung in den betrach­te­ten Län­dern und Provinzen.

Autonomiebetrebungen haben Einfluss auf Wahrnehmung der Wahlteilnahme

Spa­ni­en und Kana­da sind bei­des Staa­ten, in denen ein­zel­ne Regio­nen für mehr Auto­no­mie kämp­fen. Dies zeigt sich auch in den Befra­gun­gen. Die kata­la­ni­sche Wäh­ler­schaft, die im Rah­men der Unter­su­chung befragt wur­de, ist mit ihrer Regi­on stark ver­bun­den und betrach­tet regio­na­le Wah­len stär­ker als Bür­ger­pflicht als die Teil­nah­me an ande­ren Wah­len in Spa­ni­en. In Kana­da sieht es ähn­lich aus: die unter­such­te Wäh­ler­schaft aus Que­bec emp­fin­det die Teil­nah­me an regio­na­len Wah­len eben­falls eher als Bür­ger­pflicht als die Teil­nah­me an natio­na­len Wahlen.

Deutsch­land und in wach­sen­dem Mas­se auch die Schweiz sind jedoch ver­mehrt ver­bund­fö­de­ra­lis­tisch orga­ni­siert, wo ins­be­son­de­re Bun­des­län­der, aber auch Kan­to­ne immer häu­fi­ger durch natio­na­le Poli­tik­ent­schei­de in einer Aus­füh­rer­rol­le und weni­ger einer Gestal­ter­rol­le auf­tre­ten, was die wahr­ge­nom­me­ne Wich­tig­keit der regio­na­len Wah­len gegen­über den natio­na­len Urnen­gän­gen abschwächt.

Tabelle 2: Pflicht vs.  freiwilliger Entscheid sowie Wahlteilnahme, Kantone Zürich und Luzern 2011

Ebene\Altersgruppe

 

<30

30–59

60+

kan­to­nal

Pflicht

29.38

30

35.52

 

frei­wil­lig

63.72

65.8

62.84

 

Wahl­teil­nah­me

34.05

46.91

60.32

     

natio­nal

Pflicht

40.14

33.59

37.16

 

frei­wil­lig

52.55

62.56

61.39

 

Wahl­teil­nah­me

52.04

66.48

77.42

Quel­le: Wäh­ler­be­fra­gun­gen „Making Elec­to­ral Demo­cra­cy Work“, electoraldemocracy.com

Anmer­kun­gen zur Abbil­dung 2: Antei­le Befrag­te, die Wahl­teil­nah­me als Pflicht oder frei­wil­li­gen Ent­scheid betrach­ten und Anteil derer, die anga­ben, an der Wahl teil­ge­nom­men zu haben, nach Alters­grup­pe und Regie­rungs­ebe­ne geord­net (Zürich und Luzern, kan­to­na­le und natio­na­le Wah­len 2011)

Die Wahlteilnahme — Ein Generationenproblem?

In der Schweiz gibt es gerin­ge Unter­schie­de zwi­schen den Alters­grup­pen. Bei den kan­to­na­len Wah­len ist das Pflicht­be­wusst­sein unter den älte­ren Wäh­lern etwas höher als bei den Jun­gen. Das deckt sich auch mit der Beob­ach­tung, dass die älte­re Bevöl­ke­rung eine höhe­re Wahl­teil­nah­me auf­weist als die jün­ge­re. Die über­durch­schnitt­li­che Wahl­ab­senz der Jun­gen bei kan­to­na­len Wah­len kann somit durch­aus teil­wei­se mit einem Feh­len des staats­bür­ger­li­chen Pflicht­be­wusst­seins erklärt werden.

Die Betrach­tung der natio­na­len Wah­len spricht jedoch eine ande­re Spra­che. Dort ist der Anteil der Pflicht­be­wuss­ten bei der jun­gen Genera­ti­on am höchs­ten. Und trotz­dem weist die­se bekannt­lich die gerings­te Wahl­be­tei­li­gung auf. Es ist also nicht zutref­fend, dass die unter­durch­schnitt­li­che Wahl­be­tei­li­gung bei Jun­gen gene­rell auf ein weni­ger aus­ge­präg­tes staats­bür­ger­li­ches Pflicht­be­wusst­sein zurück­ge­führt wer­den kann. Die gerin­ge Wahl­teil­nah­me der jün­ge­ren Genera­ti­on muss mit ande­ren Fak­to­ren erklärt werden.

INFOBOX: Unter­schied­li­che Regierungssysteme

Kana­da hat ein soge­nann­tes West­mins­ter­sys­tem nach bri­ti­schem Vor­bild. Das Par­la­ment hat eine star­ke Stel­lung und die Regie­rung wird von einer ein­zi­gen Par­tei gebil­det. Ent­schei­de, die das Par­la­ment und die Regie­rung tref­fen, kön­nen nicht von einem Ver­fas­sungs­ge­richt wie­der aus­ser Kraft gesetzt wer­den. Die Wahl­teil­nah­me ist in einem sol­chen Sys­tem stark auf­ge­wer­tet, weil die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger kei­ne ande­re Mög­lich­keit haben, Ein­fluss auf die Poli­tik zu neh­men als das Par­la­ment zu wählen.

In Frank­reich sind Par­la­ments­wah­len dar­um weni­ger wich­tig als in Kana­da, weil zeit­nah auch der Prä­si­dent direkt vom Volk gewählt wird und mit sei­nen poli­ti­schen Vor­rech­ten die Macht des Par­la­ments ein­schränkt. Trotz­dem sind natio­na­le Par­la­ments­wah­len auf­grund Frank­reichs zen­tra­li­sier­ten Staats­auf­baus poli­tisch rele­van­ter als in ande­ren Ländern.

Spa­ni­en hin­ge­gen ist dezen­tra­li­siert, aber nicht föde­ral orga­ni­siert und wird natio­nal von Ein­par­tei­en­re­gie­run­gen geprägt. Die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger haben mehr Mög­lich­kei­ten zur Poli­tik­be­ein­flus­sung als in Frank­reich. In Spa­ni­en fin­den auch Wah­len auf regio­na­ler und loka­ler Ebe­ne statt, die wich­ti­ge Poli­tik­ent­schei­de vor­spu­ren, jedoch sind die Regio­nen nicht so auto­nom wie Glied­staa­ten in föde­ra­lis­tisch orga­ni­sier­ten Ländern.

Deutsch­land ist föde­ra­lis­tisch und wird in der Regel von Koali­ti­ons­re­gie­run­gen geführt. Die star­ke Ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit in Deutsch­land ent­zieht zudem der ein­zel­nen Par­la­ments­wahl zusätz­lich Gestal­tungs­spiel­raum. Geset­ze, die das Par­la­ment ver­ab­schie­det hat, kön­nen vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt wie­der aus­ser Kraft gesetzt werden. 

In der Schweiz domi­nie­ren die direk­te Demo­kra­tie und ein star­ker Föde­ra­lis­mus. Dazu kommt, dass alle gros­sen Par­tei­en in die Regie­rungs­ver­ant­wor­tung ein­ge­bun­den sind. Das Volk kann auf allen Ebe­nen und auf ganz unter­schied­li­che poli­ti­sche Fra­gen regel­mäs­sig direk­ten Ein­fluss neh­men. Dies führt dazu, dass in allen unter­such­ten Län­dern der gerings­te Anteil an Bür­ge­rin­nen und Bür­gern, die die Wahl­teil­nah­me als Pflicht anse­hen, aus der Schweiz stammt.


Refe­ren­zen

  • Ald­rich, John H. (1993). Ratio­nal Choice and Tur­nout. Ame­ri­can Jour­nal of Poli­ti­cal Sci­ence 37(1), 246–278.

  • Kah­ne­man, Dani­el (2012). Schnel­les Den­ken, lang­sa­mes Den­ken. Mün­chen: Siedler.

  • Making Elec­to­ral Demo­cra­cy Work. For­schungs­pro­jekt finan­ziert durch den Social Sci­en­ces and Huma­nities Rese­arch Coun­cil of Canada. 

  • Reif, Karl­heinz und Her­mann Schmitt (1980). Nine second-order Natio­nal Elec­tions – A Con­cep­tu­al Frame­work for the Ana­ly­sis of Euro­pean Elec­tion Results. Euro­pean Jour­nal of Poli­ti­cal Rese­arch 8(1), 3–44.

Bild: Flickr

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