Wie gerecht ist das Schweizer Wahlsystem?

Wahl­sys­te­me prä­gen ent­schei­dend den Cha­rak­ter eines poli­ti­schen Sys­tems. In der Schweiz beein­flus­sen Wahl­kreis­grös­sen und die Lis­ten­ver­bin­dun­gen beson­ders stark, wie Stim­men in Man­da­te umge­wan­delt wer­den. Das Sys­tem benach­tei­ligt klei­ne Par­tei­en und belohnt Bünd­nis­se. Nun wird eine Reform diskutiert.

Wahlen und Waehlerschaft

Wahl­sys­te­me legen die Spiel­re­geln für Wah­len fest. Die Gestal­tung des Wahl­sys­tems ist des­halb auch immer eine zen­tra­le Macht­fra­ge, die dar­über ent­schei­det, wel­che poli­ti­schen Grup­pen wie vie­le Sit­ze im Par­la­ment gewin­nen. Bei den alle vier Jah­re statt­fin­den­den Natio­nal­rats­wah­len gilt das Pro­porz­wahl­sys­tem: Die Man­dats­zahl einer Par­tei rich­tet sich im Grund­satz nach dem pro­zen­tua­len Stimm­an­teil. Aus­druck des stark föde­ra­len Cha­rak­ters des Wahl­sys­tems ist zudem der Grund­satz, dass jeder Kan­ton einen eige­nen Wahl­kreis bil­det und min­des­tens einen der ins­ge­samt 200 Sit­ze erhält. Die Man­da­te wer­den unter den Kan­to­nen im Ver­hält­nis zu ihrer gesam­ten Wohn­be­völ­ke­rung ver­teilt. Im Wei­te­ren gilt die Ein­zel­stim­men­kon­kur­renz: Der Wäh­ler hat so vie­le Ein­zel­stim­men, wie in sei­nem Wahl­kreis Natio­nal­rats­sit­ze zu ver­ge­ben sind. Da er die­se frei auf die Kan­di­die­ren­den ver­tei­len darf, hat er äus­serst gros­se Gestal­tungs­frei­hei­ten in der Aus­wahl und Bevor­zu­gung von Mandatsanwärterinnen.

Wich­tig sind auch die Lis­ten­ver­bin­dun­gen. Dies sind Zusam­men­schlüs­se von ver­schie­de­nen Par­tei­lis­ten, die bei der Man­dats­ver­tei­lung wie eine ein­zi­ge Lis­te betrach­tet wer­den. So soll eine bes­se­re Ver­wer­tung der Rest­stim­men gewähr­leis­ten werden.

In kleinen Kantonen haben es kleine Parteien schwer

Die­se Regeln haben unter­schied­li­che Effek­te auf die Umwand­lung von Stim­men in Man­da­te. Von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung sind die erwähn­te Ein­tei­lung und die Grös­se der Wahl­krei­se. Letz­te­re wird an der Anzahl der zu ver­ge­ben­den Man­da­te gemes­sen. Die Wahl­er­folgs­schwel­le gibt an, wie vie­le Wäh­ler­stim­men­an­tei­le es braucht, damit eine Par­tei in einem Kan­ton min­des­tens einen Sitz im Natio­nal­rat gewinnt. Die­se Schwel­le schwankt durch die Unter­schie­de in den Bevöl­ke­rungs­grös­sen zwi­schen den Kan­to­nen beträcht­lich: In den bevöl­ke­rungs­schwa­chen Kan­to­nen Uri, Obwal­den, Nid­wal­den, Gla­rus, Appen­zell Aus­ser­rho­den und Appen­zell Inner­rho­den wird nur ein ein­zi­ges Natio­nal­rats­man­dat ver­ge­ben. Sie ken­nen fak­tisch ein Mehr­heits­wahl­sys­tem, denn es wird der Kan­di­die­ren­de gewählt, wel­cher die meis­ten Stim­men erhält. Damit wei­chen die Antei­le der erhal­te­nen Sit­ze von den­je­ni­gen der Stim­men oft beträcht­lich ab. Anders sieht es in den gröss­ten Kan­to­nen aus, wo die Wäh­ler- und Sitz­an­tei­le annä­hernd über­ein­stim­men. So braucht es bei den eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2015 im Kan­ton Zürich mit 35 zu ver­ge­ben­den Sit­zen weni­ger als drei Pro­zent der Stim­men, um einen davon zu gewin­nen. Die Wahl­er­folgs­hür­de ist hier also wesent­lich nied­ri­ger als in klei­ne­ren Kantonen.

Wahlkreisgrösse und Wahlerfolg im Nationalrat

Die­ser Zusam­men­hang wird in Abbil­dung 1 dar­ge­sellt: Sie zeigt einer­seits die direk­te Bezie­hung zwi­schen der Wahl­kreis­grös­se (Anzahl zu ver­ge­ben­der Sit­ze) und der Wahl­er­folgs­hür­de, ande­rer­seits den indi­rek­ten Zusam­men­hang zwi­schen der durch die Wahl­kreis­grös­se beding­ten Wahl­er­folgs­hür­de und der Anzahl Par­tei­en, die einen Wahl­kreis im Natio­nal­rat vertreten.

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Wahlkreisgrösse, Wahlerfolgshürde und Zahl der Parteien

Wahlerfolgshürde

Wäh­rend die klei­nen Kan­to­ne mit weni­gen Sit­zen pro Wahl­kreis nur ein bis drei gros­se Par­tei­en in den Natio­nal­rat ent­sen­den, sind es in den sie­ben bevöl­ke­rungs­reichs­ten Kan­to­nen mit gros­sen Wahl­krei­sen sechs oder mehr Par­tei­en. Die Wahl­kreis­grös­se beein­flusst also nicht nur die Frag­men­tie­rung des Par­tei­en­sys­tems deut­lich. Sie benach­tei­ligt vor allem die klei­nen Par­tei­en stark und schränkt damit den Wett­be­werb zwi­schen den Par­tei­en ein oder hebt ihn in klei­nen Kan­to­nen manch­mal ganz auf.

Die Stim­men­ver­rech­nung durch das Hagen­bach-Bisch­off-Ver­fah­ren ver­stärkt die­sen Effekt noch, denn die Berech­nung bevor­zugt gros­se Par­tei­en leicht und benach­tei­ligt die klei­nen und kleins­ten dem­entspre­chend. Je höher die Wahl­er­folgs­schwel­le ist, umso unglei­cher sind die Chan­cen unter den Par­tei­en ver­teilt, Man­da­te zu gewin­nen. Wäh­rend näm­lich die gros­sen Volks­par­tei­en wie die FDP, CVP und SPS, aber auch Par­tei­en mit loka­len Hoch­bur­gen (wie lan­ge Zeit die Libe­ra­len in der West­schweiz oder die CVP in der Inner­schweiz) von einer hohen Ein­tritts­schwel­le pro­fi­tie­ren, gehö­ren klei­ne­re Par­tei­en wie etwa die Grü­nen oder die EVP zu den Verliererinnen.

 

Von Listenverbindungen profitiert das rot-grüne Lager

Die­ser Ungleich­heit kön­nen Lis­ten­ver­bin­dun­gen ent­ge­gen­wir­ken: Der Zusam­men­schluss klei­ne­rer Par­tei­en zu einem gemein­sa­men Bünd­nis soll vor allem ver­hin­dern, dass ihre Stim­men ver­lo­ren gehen. Die Ergeb­nis­se der Natio­nal­rats­wah­len der letz­ten Jah­re machen deut­lich, dass der Ein­satz von Lis­ten­ver­bin­dun­gen bedeut­sam für den Wahl­er­folg der Par­tei­en ist, wobei die­se ganz unter­schied­lich davon pro­fi­tie­ren (sie­he Abbil­dung 2). Das rot-grü­ne Lager nutzt die­ses Instru­ment kon­se­quent und hat damit im Durch­schnitt pro Legis­la­tur­pe­ri­ode rund fünf Sit­ze allein der Mög­lich­keit von Lis­ten­ver­bin­dun­gen zu ver­dan­ken. Dies ist nicht nur Aus­druck von beträcht­li­chem wahl­tak­ti­schem Bünd­nis­ge­schick, son­dern hängt auch mit der star­ken par­tei­po­li­ti­schen Zer­split­te­rung des rot-grü­nen Lagers und gleich­zei­tig poli­ti­scher Geschlos­sen­heit auf­grund hoher ideo­lo­gi­scher Gemein­sam­kei­ten zusammen.

Abbildung 2: Sitzgewinne und ‑verluste der Parteien durch Listenverbindungen bei den Nationalratswahlen 1995–2011

Sitzgewinne

Grund­sätz­lich pro­fi­tiert inner­halb einer Lis­ten­ver­bin­dung jeweils die gröss­te Par­tei, wäh­rend aus Unter­lis­ten­ver­bin­dun­gen beson­ders Klein­par­tei­en Nut­zen zie­hen. Umge­kehrt gehen die­se Sitz­ge­win­ne in der Regel auf Kos­ten der­je­ni­gen gros­sen Par­tei­en, die allei­ne antreten.

Dies gilt ins­be­son­de­re für die (rechts-)bürgerlichen Par­tei­en wie die SVP und FDP, die poli­tisch deut­lich hete­ro­ge­ner und gleich­zei­tig par­tei­po­li­tisch weni­ger frag­men­tiert sind als die links-grü­nen Grup­pie­run­gen. Ins­ge­samt stärkt die freie Lis­ten­form mit der Mög­lich­keit der Lis­ten­ver­bin­dung zwi­schen ein­an­der ideo­lo­gisch nahe­ste­hen­den Par­tei­en die Par­ti­zi­pa­ti­ons- und Inklu­si­ons­funk­ti­on des Wahl­sys­tems im Sin­ne der aus­ge­bau­ten Mög­lich­kei­ten für die Wäh­len­den, ihre Prä­fe­ren­zen im Ide­al­fall mög­lichst genau aus­zu­drü­cken. Gleich­zei­tig schwä­chen die­se Instru­men­te aber die Stel­lung, Geschlos­sen­heit und Rol­le der Par­tei­en im poli­ti­schen Sys­tem, da nicht mehr sie allei­ne über die gewähl­te Rei­hen­fol­ge der Kan­di­die­ren­den ent­schei­den können.

Neues System könnte Wählerwillen genauer abbilden

Der Anspruch eines pro­por­tio­na­len Wahl­sys­tems ist die mög­lichst prä­zi­se Über­set­zung von Wäh­ler­stim­men in Par­la­ments­sit­ze. Die­ser Reprä­sen­ta­ti­ons­ef­fekt könn­te durch die Anwen­dung des bipro­por­tio­na­len Wahl­ver­fah­rens «dop­pel­ter Pukels­heim» ver­bes­sert wer­den, das bereits in den Kan­to­nen Zürich, Aar­gau, Schaff­hau­sen, Nid­wal­den, Zug und Schwyz ein­ge­führt wur­de. Bei die­sem Sys­tem wird bei der Aus­zäh­lung in einer ers­ten Run­de der gesam­te Kan­ton behan­delt, als ob er ein ein­zi­ger Wahl­kreis wäre: Die Stim­men, die für eine Par­tei abge­ge­ben wur­den, wer­den aus allen Krei­sen zusam­men­ge­zählt und dar­aus die Anzahl gewon­ne­ner Sit­ze berech­net. Erst in der zwei­ten Ver­teil­run­de wird fest­ge­legt, in wel­chen Wahl­krei­sen die Par­tei ihre Sit­ze erhal­ten. Dadurch gehen in klei­nen Wahl­krei­sen die Stim­men für klei­ne Par­tei­en nicht verloren.

Auf natio­na­ler Ebe­ne wür­de der «dop­pel­te Pukels­heim» zu mehr pro­por­tio­na­ler Gerech­tig­keit, einer bes­se­ren Ver­tre­tung klei­ne­rer Par­tei­en und einer grös­se­ren Par­tei­en­aus­wahl in klei­ne­ren Kan­to­nen füh­ren. Die klei­nen Par­tei­en wür­den pro­fi­tie­ren, wäh­rend die gros­sen Par­tei­en ten­den­zi­ell Sit­ze abge­ben müss­ten. Die zuneh­men­de Natio­na­li­sie­rung von Wah­len und das Ver­schwin­den kan­to­na­ler Par­tei­be­son­der­hei­ten spre­chen für eine sol­che Ände­rung des Wahl­sys­tems. Eine Reform wür­de zu einer ver­bes­ser­ten Erfül­lung der wich­tigs­ten Funk­ti­on des Ver­hält­nis­wahl­sys­tems füh­ren, näm­lich die Errei­chung eines mög­lichst prä­zi­sen Spie­gel­bilds der Wäh­ler­schaft im Par­la­ment. Mit der Bei­be­hal­tung der kan­to­na­len Wahl­krei­se wür­de dabei der kan­to­na­len Auto­no­mie Rech­nung getragen.

Gefahr zunehmender Instabilität

Über eine all­fäl­li­ge Wahl­sys­teman­pas­sung wird in jüngs­ter Zeit in der Öffent­lich­keit und in der Poli­tik dis­ku­tiert. Es stellt sich aller­dings die Fra­ge, ob eine der­ar­ti­ge Stär­kung der Reprä­sen­ta­ti­ons­funk­ti­on nicht gleich­zei­tig eine wei­te­re Par­tei­en­zer­split­te­rung, eine Schwä­chung der gemäs­sig­ten Mit­te­par­tei­en und eine zuneh­men­de Insta­bi­li­tät der Regie­rungs­bil­dung durch das Par­la­ment begüns­tigt. Dies wür­de neben der Min­de­rung der Par­ti­zi­pa­ti­ons­funk­ti­on auf­grund des bis­her prak­ti­zier­ten Ver­bots von Lis­ten­ver­bin­dun­gen beim dop­pelt pro­por­tio­na­len Ver­rech­nungs­ver­fah­ren eine ande­re und für die Schweiz zuneh­mend wich­ti­ge Kern­funk­ti­on von Wahl­sys­te­men schwä­chen: die regie­rungs­bil­den­de Kon­zen­tra­ti­ons­funk­ti­on.

Hin­weis: Die­ser Text erschien auch in “Uni­Press – das Wis­sen­schafts­ma­ga­zin” (Heft-Nr. 165). Eine län­ge­re Fas­sung des vor­lie­gen­den Bei­trags ist in „Die Volks­wirt­schaft“ Nr. 5/2015, S. 34–39, erschienen.


Refe­ren­zen: 

  • Adri­an Vat­ter (2015). Wenn die Regeln die Resul­ta­te bestim­men: Die Wir­kun­gen des schwei­ze­ri­schen Wahl­sys­tems auf die Wahl­er­fol­ge und Reprä­sen­ta­ti­on der Par­tei­en, in: Mar­kus Frei­tag und Adri­an Vat­ter (Hg.). Wah­len und Wäh­ler­schaft in der Schweiz. NZZ Libro. Zürich, S. 41–69.

Foto: Par­la­ments­diens­te 3003 Bern, parlament.ch

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